„An Stelle der Revolution kam Napoleon“

Vor 200 Jahren unterlag Preußen der französischen Armee. Mit der Niederlage stellte sich auch die Frage nach einer deutschen Identität. Der damalige Epochenbruch zeigt heute noch Wirkung, meint der Historiker Jörn Leonhard

taz: Herr Leonhard, was bedeutet die historische Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt für die deutsche Geschichte?

Jörn Leonhard: Mit „1806“ kam Napoleon an Stelle einer deutschen Revolution. Das von ihm erzwungene Ende des alten Reiches fiel mit dem Ende des friderizianischen Preußens zusammen. Zugleich formierte sich der Rheinbund und unterstrich die fortwirkende föderale Struktur in der Mitte Europas. All dies vollzog sich in einem Zeitalter europäischer und internationaler Kriege. Diese kurze Epoche verdichtete gleichsam Erfahrungsbrüche und blieb für die nachfolgenden Generationen ein entscheidender Bezugspunkt.

Der Kopftuch- und Kruzifixstreit, die Frage nach der deutschen Leitkultur, die unendliche Föderalismusdebatte: Kämpfen wir heute noch mit den Strukturen aus Napoleons Zeiten?

Mit der Niederlage Preußens, dem Rheinbund und der Bereinigung der deutschen Landkarte stellte sich die Frage „Was ist deutsch?“ in einem ganz neuen Sinn: Welche politischen oder kulturellen Selbstbilder zeichneten die „deutsche Nation“ aus und unterschieden sie von Frankreich? Diese Frage ging über traditionelle Identitäten als Hallenser, Protestant oder Preuße hinaus. Aus dem „Monster“ des alten Reichs mit seinen über 300 Klein- und Kleinststaaten entstanden neue souveräne Mittelstaaten wie Bayern, Baden, Württemberg oder Sachsen, die auch den Sturz ihres Protektors Napoleon 1814/15 überlebten.

Die Säkularisation schwächte die Kirchen ökonomisch und politisch, aber sie bedeutete eben noch keine Säkularisierung. Anders als in Frankreich, wo sich die Trennung zwischen Staat und Kirche langfristig durchsetzte, entwickelte sich in Deutschland ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen Staat und Kirche, das sich bis heute erhalten hat. Die heutigen Auseinandersetzungen um die Föderalismusdebatte reflektieren die lange Dauer föderativer Elemente von Staatlichkeit in Deutschland. Das gab es vor 1806 und auch lange danach.

Lässt sich 1806 als ein Geburtsjahr der europäischen Weltkriege verstehen?

1806 fällt in eine allgemeine Kriegsepoche zwischen 1792 und 1815, die einen ersten Globalisierungsschub von kriegerischer Gewalt mit sich brachte. Es kam zu Massenkriegen, wie sie das 18. Jahrhundert noch nicht gekannt hatte. Denken Sie auch an die zeitgenössische Diskussion um die Wehrpflicht und das Ideal des bürgerlichen Vaterlandsverteidigers, der den bezahlten Söldner ersetzen sollte. Wenn die „neuen Kriege“, von denen Herfried Münkler spricht, heute von lokalen Warlords geführt werden, dann erinnert dies auch an die ersten Guerillakriege, an die Idee von kleinteiligen Volksaufständen gegen Besatzer, so wie in Spanien seit 1808 gegen die Franzosen. Die Kriege zwischen 1792 und 1815 brachten, jenseits der Kämpfe um Territorien, auch einen neuartigen Ideologisierungsschub: Man kämpfte für die fortschrittlichen Revolutionsprinzipien oder focht einen „heiligen Krieg“ (E. M. Arndt) für die deutsche Nation gegen Frankreich.

Sie sind unlängst mit der These an die Öffentlichkeit getreten: Unsere westliche Zivilgesellschaft, die wir so gern von Terror und Gewaltherrschaft distanzieren, könne in ihrer Entstehung nicht von der Erfahrung kriegerischer Gewalt getrennt gesehen werden.

Ich spreche nicht von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen Zivilgesellschaft und Gewalt, aber ich plädiere für den genaueren Blick auf den Zusammenhang von Fortschrittsverheißungen und Kriegen. Zivilgesellschaft bedeutet historisch nicht Zivilität: Die Zeitgenossen von 1806 in Jena oder Weimar erfuhren den Export der Französischen Revolution auch als Eskalation kriegerischer Gewalt. Progressive Werte und Institutionen – denken Sie an den Code civil – wurden auch durch Krieg exportiert. Diese Ursprünge unserer Zivilgesellschaftlichkeit in der Erfahrung von Gewalt – als äußerer Krieg oder innere terreur – müssen wir stärker in den Blick nehmen.

Was bedeutete 1806 für die Idee von „Europa“?

Von 1792 bis 1945 ist Europa immer wieder Schauplatz bellizistischer Konjunkturen gewesen – nicht zuletzt weil sich die europäischen Nationalstaaten als Kriegsstaaten legitimierten. 1806 erinnert daran als ein symbolischer Bezugspunkt. Der Krieg machte Europa aber auch als neuartigen Erfahrungsraum erfahrbar. Denken Sie an die russischen Offiziere, die 1814 nach Paris marschierten, um Napoleon abzusetzen, und dort die Ideen von 1789 kennen lernten. Zurück in Russland, versuchten sie diese im Dekabristenaufstand durchzusetzen. 1806 markiert eine historische Beschleunigung in der Auseinandersetzung mit dem Anderen – mit Frankreich, mit den Ideen von 1789, mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Revolution – und damit mit sich selbst. INTERVIEW: FRITZ VON KLINGRÄFF