Kommentar
: Warum diese Gorbi-Manie?

Michail Gorbatschow ist 75 geworden, Bremen gibt sich die Ehre und zum Geburtstag nur die besten Wünsche. Aber muss man denn Geschichtsklitterung auf höchstem Niveau betreiben?

Gorbatschow hat die Worte Glasnost und Perestroika weltbekannt gemacht und damit die Phantasie der Menschen beflügelt. Sicher, Sacharow wurde aus dem Lager freigelassen und der Pianist Yuri Rozum aus seinem Exil befreit. Dass Helmut Kohl die ersten Äußerungen Gorbatschows zum Anlass nahm, mit seinem berühmten Göbbels-Zitat vor dem neuen Mann zu warnen, gehört eher zur „historischen Rolle“ von Kohl. Ebenso das 10-Punkte-Programm, mit dem Kohl am 27. November 1989 die Geschichte aufhalten und eine „Konföderation“ zwischen DDR und BRD in die Diskussion brachte – und die polnische Westgrenze zu erwähnen vergaß.

Gorbatschow hat im November 1989 nicht die sowjetischen Panzer nach Berlin geschickt, das ist sein Verdienst. Vielleicht hatten die Moskauer Hardliner zu viel mit dem Unabhängigkeitsstreben der Sowjetrepubliken zu tun, um sich auch noch um Berlin zu kümmern. Als in Riga im Januar 1990 die Unabhängigkeit von der Sowjetunion proklamiert wurde, ließ Gorbatschow das lettische Parlament vom Militär besetzen. Erst Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin entließ die baltischen Staaten 1991 in die Unabhängigkeit. „Revolutionen steuern uns“, bekannte Gorbatschow gestern in seiner Festrede. Solche Bescheidenheit macht ihn sympathisch. Er hat den Zerfall des Sowjetreiches nicht zu verhindern gewusst, obwohl er das wollte. Das ist sein Verdienst. Klaus Wolschner