berliner szenen Ferne Dämpfe

Ausstieg Bersarinplatz

Die M20 schleicht von einem Stadtteil zum andern. Fabian steigt Arnswalder Platz ein, hinter einer Frau mit Walkman, die sich die Aufzeichnungen eines Babyfons anhört. Die Fahrgäste strecken die Beine aus, ganz Feierabendstimmung. Ein Mädchen im Nuttenlook liest in einem Suhrkamp-Band. Fabian setzt sich neben eine ältere Dame in grauschwarzem Faltenrock, die leise vor sich hin röchelt.

Eine Station später durchwalzt Charlestonmusik die Tram. Ein Trio: Vorneweg ein Mann mit einem Schnellrestaurant-Pappbecher, der jetzt gleichsam als Sammelbüchse wie Perkussionsinstrument verwendet wird. Hinter ihm folgt ein kleiner Mann am Minisaxofon, das er unrhythmisch schaukelt, am Schluss kommt der Mann mit dem Akkordeon. Fleckiges T-Shirt, Wampe und Baseballkappe, darauf die Aufschrift „Electrolux“.

An der Landsberger Allee steht ein warm leuchtender Bürokomplex. Die ältere Dame ist ausgestiegen und bewegt sich mühsam an einer Müllcontainerreihe vorbei. Die Charleston-Combo bleibt an der Haltestelle stehen und wartet auf die nächste Tram in Richtung Ost. Fabian fühlt sich betäubt, die Musik war laut und anstrengend. Auf den Sitz gegenüber hat sich ein bebrilltes Mädchen gesetzt, es hat etwas Obskures im Blick und liest de:bug. Ihre Pupillen tasten die Schrift ab. Ihre Lippen sind porös. Ihr Gesicht verbiegt sich, weil sie es mit der Faust stützen muss. Sie hat befremdliche Züge um die Augen, es sieht aus, als ob ihre Haut an den falschen Stellen gestrafft worden sei.

Ich hätte sie ansprechen sollen, überlegt Fabian beim Ausstieg am Bersarinplatz. Wehmütig schaut er der Tram nach. Über der Rigaer Straße steigt eine Rauchsäule auf. Ferne Dämpfe.

RENÉ HAMANN