Schneehaufen so hoch wie Laternenpfähle

In München erzwingt der Schnee einen fast autofreien Sonntag. Wer den Wagen braucht, muss graben

MÜNCHEN taz ■ „Wahnsinn“, sagt die junge Frau immer wieder. Nach vorne gebeugt läuft sie vorsichtig durch die Schneise auf dem Gehweg. Links Schnee bis zu den Knien, rechts Schnee bis zu den Knien. Ab und zu rutscht ihr ein Fuß weg. „Wahnsinn.“

Von Samstag auf Sonntagnacht ist München noch tiefer im Schnee versunken. Es hat fast ununterbrochen geschneit, so heftig wie seit 20 Jahren nicht mehr – einen halben Meter Neuschnee etwa. In der Fußgängerzone sind die zusammengeschobenen weißen Haufen mittlerweile so hoch wie die Laternen. Erst am Sonntagvormittag hört es vorerst auf zu schneien.

Für die einen ist es ein Verkehrschaos. Am Bahnhof und am Flughafen bewegt sich zeitweise fast nichts mehr. Für die anderen ist es ein Wintermärchen im März. In den Nebenstraßen der Maxvorstadt gehen Sonntagsspaziergänger über fast autofreie Straßen.

Milan Culic stützt die Hände auf die Kühlerhaube seines grünen Mercedes. Seine Tochter sitzt drinnen und gibt zögerlich Gas. Culic schiebt. Der Schnee knirscht unter den Reifen. Der Wagen rollt langsam rückwärts. Culic ist erleichtert. Er muss von München, wo er am Wochenende seine Verwandten besucht hat, zurück nach Sindelfingen. Die Nachtschicht bei Mercedes beginnt um 22 Uhr, jetzt ist es 12 Uhr. Zehn Stunden, normalerweise braucht man weniger als drei. Er wird es über die Autobahn probieren. Der Verkehr geht schleppend voran, hat die Tochter im Radio gehört. „Es ist überall Chaos“, sagt sie. Eine Frau kommt und leiht sich die Schneeschaufel der Culics. Die Projektmanagerin muss auch nach Stuttgart. Noch ist ihr Auto unterm Schnee kaum zu erkennen.

Vor dem Hauptbahnhof schaufeln einige Stadtarbeiter einen Weg frei. Drinnen sind überall lange Schlangen. Es ist Mittag. Einige Züge fahren wieder. Vor allem ICEs, hauptsächlich nach Norden. „Jetzt geht’s schon wieder ein bisschen“, sagt einer vom Service-Personal. Vor allem in den Süden Bayerns aber gibt es immer noch keinen Zugverkehr. In München selbst fahren keine Straßenbahnen und kaum S-Bahnen. Auf den Straßen sind in erster Linie Räumfahrzeuge und ein paar Taxis unterwegs. 83 Ampeln seien ausgefallen, meldet die Polizei. In anderen bayerischen Städten herrschen ähnliche Zustände. Auch in Augsburg bricht der öffentliche Nahverkehr zusammen.

Im Süden Bayerns und in Teilen Baden-Württembergs stürzten am Wochenende viele Bäume unter der Schneelast um und versperrten die Straßen. Viele Bundesstraßen mussten gesperrt werden. Am Samstag hatte die Polizei von einem „kompletten Verkehrsinfarkt“ auf manchen bayerischen Autobahnen gesprochen. Am Abend zog sich ein Stau auf der A8 nahe Augsburg über 50 Kilometer. Mindestens drei Menschen starben bei Verkehrsunfällen. Viele Wagen rutschten mit Sommerreifen über die Autobahnen. Auf dem Münchner Flughafen schlitterte ein Passagierflugzeug von der Fahrbahn. Inlandsflüge wurden annulliert, etliche Maschinen hatten Verspätung.

Weil einige Stromleitungen beschädigt waren, hatten 10.000 Kunden des Energieversorgers Eon Bayern Samstagnacht und am frühen Sonntagmorgen keinen Strom. Seit Sonntagnachmittag fließt der Strom dort nach Angaben des Unternehmens wieder.

Im baden-württembergischen Singen mussten 80 Reisende in der Nacht zum Sonntag im beheizten Zug übernachten. Sie waren auf dem Weg von Stuttgart nach Mailand. Erst am nächsten Morgen ging es mit einem Bus weiter.

Mehrere Hallen mussten vorsichtshalber von den Schneemassen befreit werden, darunter das Dach der Schwabenhalle in Augsburg. In Meßstetten, Baden-Württemberg, stürzte das Dach einer leer stehenden Fabrikhalle auf einer Länge von 30 bis 40 Metern ein. Verletzt wurde niemand. Aus Sorge vor einem Einsturz des schneebedeckten Hallendachs wurde ein Eishockey-Bundesligaspiel der Wild Wings aus Schwenningen verlegt.

JOHANNES GERNERT