Beenderin des Lebens

ENGE Michela Murgia wirft harte Blick auf eine archaische Gesellschaft – „Accabadora“

VON NINA APIN

Fünfzigerjahre. Sardinien. Ein Dorf. Wo immer Bonaria Urrai und Maria auftauchen, folgen ihnen die Blicke. Die hagere alte Schneiderin und das Mädchen leben zusammen wie Mutter und Tochter. Ihre Verbindung ist aber nicht biologischer Natur, sondern beruht auf einem alten Brauch: Als „fill’e anima“, Tochter des Herzens, holt die kinderlose Alte die Sechsjährige zu sich, kommt für ihre Bildung und Erziehung auf. Dafür soll sich das Mädchen später um sie kümmern. Getuschelt wird trotzdem, denn im Dorf weiß man, dass die Alte noch ein altes Gewerbe ausübt, über das niemand spricht.

Michela Murgias Roman „Accabadora“ ist eine Reise in eine untergegangene Welt voller Mythen und Traditionen. Doch das Dorf Soreni ist trotz seiner Zitronenbäume und Weinberge kein Sehnsuchtsort für italophile LeserInnen. Die Autorin weiß um den Reiz der Exotik, doch sie schwelgt nicht darin. Weder der Duft frisch gebackener Orangentörtchen noch die eingestreuten sardischen Mundartausdrücke mildern ihren harten Blick auf eine Kultur, die in ihrer Kindheit noch von den Alten gelebt wurde. Ungebildet, arm und beschränkt sind die Leute dort, wo das Herunterfallen des Brautbrots Unglück bedeutet und das Dienstmädchen weiß, in welche Richtung der Dienstherr seinen Penis in der Hose zu tragen pflegt. Beim Lesen entfaltet sich ein Tableau dörflich-katholischer Enge, das einem die Brust nicht vor Sehnsucht weitet, sondern zusammenschnürt.

„Accabadora“ ist also kein Wohlfühlbuch. Es lebt von seiner Unerbittlichkeit. Unheil liegt über dem Dorf, in dem Maria unter der Obhut ihrer Adoptivmutter erwachsen wird und, ganz gegen die Tradition, die Schule bis zum Ende besucht. Etwas Dunkles umgibt Bonaria Urrai, die alle im Dorf mit respektvoller Distanz behandeln. Manchmal bekommt sie nachts Besuch und verlässt das Haus. Nach diesen Besuchen wirkt sie besonders unnahbar: „Maria fand die Alte vor dem Kamin, die Augen auf die erloschene Glut gerichtet, fest in ihre schwarzes Tuch gewickelt, wie eine im eigenen Netz verfangene Spinne.“

Erst als junge Frau begreift Maria, dass Bonaria Urrai eine „Accabadora“ ist, die Sterbenden in Agonie zum Tode verhilft. Die Figur der „Accabadora“, wörtlich „Beenderin“, spielt eine zentrale Rolle in sardischen Legenden und Sagen. Die letzte Accabadora soll noch 1952 gewirkt haben, historisch ist ihre Existenz aber nicht bewiesen. Im Roman stellt Michela Murgia Sterbehilfe als von der Gemeinschaft mitgetragenen Akt der Barmherzigkeit dar. Für ihren Beruf genießt die Accabadora höchstes Ansehen, selbst der Pfarrer schweigt. Doch Bonaria Urrai, die von ihrer Mutter in die Tradition eingeführt wurde, ist nicht unfehlbar.

Maria, Angehörige einer neuen Generation, wendet sich mit Grausen ab. Sie entzieht sich dem Zugriff der Alten, die ihr Vertrauen missbraucht hat. Doch am Schluss ist sie es, die der „Beenderin“ hilft, aus dem Leben zu finden. Bonaria Urrai hat Schuld auf sich geladen, und es ist Marias Pflicht, alle Sterbehilfefälle im Dorf neu aufzurollen.

„Accabadora“ ist eine ungewöhnliche Mutter-Tochter-Geschichte, ein Krimi und ein Gedankenspiel darüber, wie eine Gesellschaft mit dem Tod umgeht. Orangentörtchen und Engegefühle beim Lesen inklusive.

Michela Murgia: „Accabadora“. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Wagenbach, Berlin 2010, 176 Seiten, 17,90 Euro