Womöglich die Erlösung

Es war so ein Abend in der Philharmonie, Ende April im vergangenen Jahr, als dort Merkwürdiges vonstatten ging. Was an einem bewegungsfreundlichen Publikum lag, das das gute Recht für sich in Anspruch nahm, ein Konzert eben dann für beendet zu erklären, wenn man keine Lust mehr auf weiteres hat. An diesem Abend allerdings war das nicht nur einer, der möglicherweise mit der Leistung des Orchesters nicht einverstanden war (es spielten die Berliner Philharmoniker). Es war kein Zweiter, der vielleicht unbedingt ein Eis essen gehen musste. Es waren Massen. Ein wirklicher Exodus. Schätzungsweise ein Drittel des Publikums war saalflüchtig, was nur heißen kann, dass diesen Hörern die Musik schlicht auf die Nerven ging.

Was jetzt unbedingt für das Werk spricht. Schon ein gewaltiger Brocken. Gegeben wurde an dem Abend das „Requiem für einen jungen Dichter“ von Bernd Alois Zimmermann, das immerhin bereits 1969 seine Uraufführung hatte und 40 Jahre später nichts von seiner Intensität verloren hat. Eine Textcollage mit jubilierenden Chören, die sich aus dem Maschinenhaussurren der elektronischen Musik stemmen, die Zimmermann hier neben einem ausgewachsenen Orchester, einer zwischenreinplatzenden Jazzcombo, Sprechern, Solosängern und mehreren Chören zusammengeworfen hat, was sich zum Schluss hin gegenseitig aufschaukelt, das geclusterte Klavier, die geschlagene Trommel, die apokalyptischen Fanfaren, die Singschreie und die irrsinnigen Durchsagen vom Band mit Goebbels und seinem totalen Krieg, „Hey Jude“ von den Beatles, Churchill, Stalin, die Tonspuren von Demos dieser bewegten Sechzigerzeit, und das alles mündet in ein herzschneidendes „Dona nobis pacem“. Eine Klage, ein Hilfeschrei. Ein Schauer. „Gib uns Frieden.“

Aber das sind genau die Momente, wegen denen man Musik ja überhaupt hört. Wieso man sie sich antut. Was einem mit Zimmermann passieren kann (der sich vielleicht noch tiefer ins Fleisch schneidet im Wissen, dass der Komponist dann 1970 Selbstmord beging – ein Kernsatz seines „Requiems“ sind die Verszeilen von Konrad Bayer, „worauf hoffen? / es gibt nichts was zu erreichen wäre, außer dem Tod“). Und es kann einem auch mit einer finnischen Punkband passieren. Manchmal nur. Man weiß es nicht im voraus. Diese Momente passieren nicht oft, man muss auf sie hoffen: dass die Erlösung bereits im Jetzt möglich ist. In der Musik. Auch für Agnostiker.

Mehr Zimmermann. Gibt es nächsten Mittwoch im Rahmen der MaerzMusik in der Philharmonie mit „Stille und Umkehr“. Die letzte Orchesterkomposition, die Zimmermann vor seinem Tod schrieb. THOMAS MAUCH