Keine Chance für Ostalgie

Die Künstlerin Sandra Kuhne hat eine Ostprodukte-Rettungsstation geschaffen. Kollegen dürfen Schätze ausleihen und bearbeiten. Nur was entzückte Aufschreie bei Ostalgikern auslöst, fliegt raus

Bremen taz ■ Brechreiz erwartet den, der das unschuldige Holzschächtelchen öffnet. Handrücken, Knöchel, Finger mit nässenden Wunden, fiesen Verbrennungen. „Gammastrahlen“ steht auf den Diarahmen. „Nehmen Sie die polnischen Scherenschnitte, die sind ganz harmlos“, sagt Sandra Kuhne. Sie ist selbsternannte Archivarin von Material „made in GDR“. Filzrollen und Luftschlangen, Plastikblüten und Dia-Serien hat die Künstlerin in zehn Jahren Sammelwut zusammengerafft. Bedingung: Die Dinge dürfen um keinen Preis um die Gunst des Betrachters werben. Was bei Ostalgikern den entzückten Aufschrei auslöst: „Das hatte meine Oma auch!“, fliegt raus. Es geht um den Materialcharakter, um die Fülle.

„Ich kann nichts wegwerfen“, sagt Sandra Kuhne. „Ich bewahre sogar mein Badewasser auf und verwende es als Klospülung.“ Die gebürtige Dresdnerin fuhr in den Neunzigern zwischen ihrer Heimatstadt und der polnischen Grenze umher, fotografierte verlassene Schulen und Fabriken. In manchen sah es aus, als habe man einfach abgeschlossen und sei gegangen. Klar, dass sie ihre Funde nicht liegen ließ. Die Ostprodukte-Rettungsstation, für die sie mittlerweile einen Container angeschafft hat, hat auch politische Dimensionen, sagt Kuhne. Für wertlos erklärt wurden schließlich nicht nur Produkte, sondern auch Biographien.

Mittlerweile sind es fünfhundert die Arten, in ihrem Reservat auf eine neue Nutzung warten. Ihre Lösung nennt Sandra Kuhne „Material- und Erinnerungstransfer“: Sie stellt – oft unter Abschiedsqualen – die Stücke Künstlern zur Verfügung, die etwas Neues daraus machen. Wenn sie zurückkommen, ist Kuhne gerührt. „Liebesbeweise“ nennt sie die Ergebnisse, die sie schon in Braunschweig und Hannover ausgestellt hat. Liebesbeweise an die Dinge natürlich. Dörte Eisfeld, ihre Professorin an der Braunschweiger Kunsthochschule, hat ein DDR-Schulheft mit Foto-Schnipseln und Textfragmenten zu einem minimalistischen Tagebuch gestaltet. Eine reisende Freundin schickte ihr täglich ein eigenes Fundstück in einem Briefumschlag aus der Sammlung. Den Block mit „Bedarfmeldungen“ allerdings würde Kuhne nie herausrücken. „Den kann man immer bei sich tragen und aufschreiben, woran man gerade Bedarf hat.“ Eines ihrer nächsten Projekte.

Neulich hat das Netzwerk „Vitales Archiv“ seinen ersten Ritterschlag vergeben. „Vermehrungsschlag der ausgezeichneten Qualität“ tönt die Plakette, die zu DDR-Zeiten erstklassiges Saatgut auswies und heute verdiente Projektpartner ehrt. Die Kommunikationsagentur „artundweise“ darf sich die mit Ortsamtsleiter Robert Bücking gemeinsam verliehene Auszeichnung ans Klingelschild hängen. „Den Preis haben sie als selbstlose Ermöglicher von Kultur bekommen. Dass wir zusammenarbeiten, hat damit gar nichts zu tun“, versichert Kuhne. Geschenkt. Ein Geniestreich künstlerischen Selbstmarketings ist so eine Preisverleihung allemal. Annedore Beelte