Battlefield Bökelberg

AUS MÖNCHENGLADBACHMARTIN TEIGELER

Der „Berg“ soll dem Erdboden gleichgemacht werden. Der „Berg“, so nennen die Fans des Fußball-Bundesligisten Borussia Mönchengladbach ihr Bökelbergstadion nostalgisch. 40 Jahre lang war der „Berg“ der wichtigste Ort in der Stadt am Niederrhein. 40 Jahre lang trug die Borussia hier ihre Heimspiele aus. Meisterschaften wurden in dem engen 34.500-Zuschauer-Stadion mit den steil abfallenden Stehplatztribünen und den wenigen Parkplätzen gefeiert – und Niederlagen betrauert.

Hubschrauber kreisen über dem Stadion. Die Straßen rund um den Mönchengladbacher Bökelberg sind an diesem sonnigen Dienstag leer. Polizisten blockieren alle Zufahrtswege und lassen niemanden durch. An vielen Fenstern sind die Rolläden heruntergelassen. Städtische Ordnungshüter mit orangefarbenen Warnjacken gehen von Haus zu Haus und informieren die Bewohner der bürgerlich-spießigen Siedlung. Das alte Stadion liegt mitten in diesem ruhigen Wohngebiet.

Ein Polizeiauto fährt langsam die Bökelstraße entlang, monoton dröhnt die Stimme eines Beamten aus dem Lautsprecher: „Achtung, Achtung, bitte verhalten Sie sich luftschutzmäßig!“ Die Anwohner dürfen sich nicht im Freien aufhalten. Eine alte Frau steht noch auf ihrem Balkon im zweiten Stock und gießt sorgfältig Blumen. Ein Polizist fordert sie auf, in ihre Wohnung zu gehen. Die Frau schaut ernst und geht wortlos hinein. Sie verhält sich jetzt „luftschutzmäßig“. Bei geschlossenen Fenstern müssen die meist älteren Stadionanwohner warten, bis die Polizei sie mit einer erneuten Durchsage über das Ende der Sprengung informiert.

„Mir ist mulmig“, sagt Telse Braßel. Sie sei ein bisschen traurig. Die Mittsechzigerin trägt einen Borussia-Schal und steht im Pullover draußen vor den Resten der alten Südtribüne. Den fragenden Journalisten muss sie ihren norddeutschen Vornamen buchstabieren und erklären, dass sie gleich um die Ecke in der Eickener Höhe wohnt. Sie sei „verwachsen“ mit dem Bökelberg, sagt Telse Braßel. Sie lächelt nervös und hält beim Sprechen ihren Schal fest. Früher sei sie oft ins Stadion gegangen, zu Zeiten der großen Borussiamannschaft um Günter Netzer und Jupp Heynckes. Ihr schönstes Spiel im Bökelberg-Stadion? „Damals gegen Inter Mailand“, sagt Braßel nach kurzem Überlegen. 7:1 gewann die Borussia 1971 im Europapokal gegen die Italiener. Ein großer Tag war das für die „Fohlen“ – und ein trauriger. Weil ein Zuschauer dem Mailänder Nationalspieler Roberto Boninsegna eine Coladose an den Kopf warf, wurde das Spiel nicht gewertet.

Im Europapokal spielt Mönchengladbach schon lange nicht mehr. Weil der Club wieder nach oben will, an die Spitze, haben die Borussia-Verantwortlichen vor einigen Jahren entschieden, den Bökelberg zu verlassen. Draußen vor der Stadt haben sie statt dessen den „Nordpark“ gebaut, eine moderne „Arena“ für mehr als 50.000 Zuschauer. Seit Juli 2004 spielt der VfL dort. Der Bökelberg sei zu eng gewesen, habe der Entwicklung des Vereins mit seinem altmodischen, unbequemen Ambiente im Weg gestanden. Das neue Stadion dagegen liegt direkt an der Autobahn, hat Business Seats und Logen. Von weitem sieht der Nordpark aus wie eine Shopping Mall. Nicht alle Borussia-Fans mögen das neue Stadion. „Scheiß Nordpark“, hat jemand an eines der alten Kassenhäuschen gesprayt. Auch der Taxifahrer, der Schaulustige vom Hauptbahnhof zum Bökelberg fährt, meckert über den Stadionwechsel. „Früher konnte ich bei Heimspielen vier, fünf Fahrten machen“, sagt der Mann. Heute fahren viele Fans mit dem eigenen Auto raus zum Nordpark, die Straßen seien verstopft. „Vorm letzten Spiel habe ich 40 Minuten im Stau gestanden, so kann ich kein Geld verdienen.“

Neben der alten Südtribüne liegen auf einem großen Schrotthaufen alte Wellenbrecher und verbogene Stücke des Stadionzauns. Der Bökelberg ist schon seit Monaten eine Ruine. Heute sollen die letzten Reste des Stadions, die mächtige Haupttribüne und zwei Flutlichtmasten, platt gemacht werden. Auf dem Gelände soll bald eine schicke Wohnanlage entstehen. Das Bedürfnis der Borussia-Fans, vom Bökelberg Abschied zu nehmen, scheint nicht besonders stark zu sein. Nur wenige Dutzend Neugierige haben sich hinter den Sperrblockaden der Polizei versammelt, um die Sprengung anzuschauen: Rentner, ein paar Jugendliche, vorbeifahrende Autofahrer, die kurz anhalten.

12.58 Uhr. Das Geräusch der Sprengung ist nur kurz zu hören. Es klingt nicht nach ohrenbetäubendem Dynamit, sondern wie Baustellenlärm. Ein Kind schreit irgendetwas. Die kleine Menschenmenge beobachtet aus mehreren Hundert Meter Entfernung, wie die alten Fluchtmasten hin und her wackeln. Die marode Haupttribüne vibriert. Staub steigt auf. Masten und Tribüne schwanken wieder langsamer. Nach wenigen Sekunden stehen sie wieder gerade. Die Sprengung ist misslungen. Einige Zuschauer lachen. „Peinlich, peinlich“, sagt ein Rentner mit Halbglatze. Der Bökelberg steht. Nur die unter dem Tribünedach liegenden Steintreppen sind von der Explosion niedergerissen worden. Die Dachkonstruktion der Haupttribüne sieht jetzt zusammengedrückt aus wie eine gigantische, ächzende Ziehharmonika aus Stahl und Beton.

Vertreter der Polizei und der Stadt Mönchengladbach fangen an, hektisch mit ihren Handys zu telefonieren. Sie schauen ernst und wissen nicht, was passiert ist. Willi Theveßen, der stämmige Sprecher der Polizei, sagt mit breitem niederrheinischen Akzent in die Kameras der zahlreichen Fernsehsender, die das Ende des Bökelbergs filmen: „Die Sprengung war nischt erfolgreisch.“ Rolf Königs, der sehr aristokratisch aussehende Präsident von Borussia Mönchengladbach, scherzt: „Tja, der Bökelberg war immer eine Festung.“ Einige Passanten lachen, andere schütteln mit dem Kopf.

Es wurde wohl zu wenig Sprengstoff in den Fundamenten der zwei tragenden Lichtmasten deponiert. Nach wenigen Minuten fährt ein Bagger auf die stehen gebliebene Säule des Stadions zu. Stunden später legen weitere mächtige Pressluftbagger den Rest vom Bökelberg in Schutt und Asche. Der Berg ist gefallen.