Die Welt zu Gast bei Herrn Krämer

„Ich brauche 15 Leute“, sagt Krämer, „sieben Tage die Woche. Dann ist hier richtig Party“

AUS PAAREN IM GLIEN BARBARA BOLLWAHN

Der Mann muss verrückt sein. Millionen Menschen suchen Arbeit, und er kündigt seinen festen Job. Ohne Gehalt betreibt er nun sieben Tage die Woche ein Projekt, dessen Ausgang so offen ist wie die Fußballweltmeisterschaft. Deshalb kann man getrost sagen, dass Ulrich Krämer verrückt ist. Fußballverrückt.

Der 43-Jährige Mann mit der Halbglatze nimmt das Motto der WM, „Die Welt zu Gast bei Freunden“, wörtlich. In der 20.000 Einwohner zählenden Stadt Mayen im Norden von Rheinland-Pfalz hat er 2 Millionen Euro bei Sponsoren und Investoren aufgetrieben. Er hat seinen Job bei einer amerikanischen Computerfirma in Frankfurt nach sechs Jahren sausen lassen. Er hat sich eine Nummer für sein Handy besorgt, die auf -20 06 endet. Zusammen mit seinem Bruder – der allerdings in seinem Job als Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens geblieben ist – hat er das „Fanprojekt 2006“ gegründet.

Bisher war Ulrich Krämer bei seinem Heimat-Fußballverein TuS Mayen e. V. zuständig für „Events und Veranstaltungen“. Diesmal koordiniert er ein Event der Superlative. „Wir sind mit 500.000 Übernachtungen der größte Gastgeber der WM“, verkündet er in jenem rheinländischen Singsang, bei dem aus wichtigen Sätzen lustige Sätze werden, wenn die Stimme am Ende nach oben geht.

Um keinen Ärger mit dem Weltfußballverband Fifa zu bekommen, der sich die alleinigen Vermarktungsrechte gesichert hat, tritt Krämer unter dem leicht abgeänderten Slogan „Willkommen bei Freunden“ an. Dafür hat er das Gastgeberland strategisch aufgeteilt: in „Fantreff Nord“, „Fantreff Mitte“ und „Fantreff Süd“. An jedem dieser Standorte will er einen Monat lang täglich bis zu 4.000 Fans Übernachtungen im Zelt bieten, für jeweils 18 Euro. Außerdem stehen Liveübertragungen auf Videoleinwänden, „Fressmeilen“, Biergärten, Bahn- und Busshuttles zu den Spielorten bereit.

Das Wichtigste für Krämer aber sind die „Happenings, Diskos und After-Game-Partys“ bis spät in der Nacht. Für Krämer eine logische Konsequenz nach vier Weltmeisterschaften, bei denen er dabei war. Italien, USA, Korea und Frankreich – „ich habe dort immer eine unglaubliche Gastfreundschaft erlebt“. Aber er hat auch immer etwas vermisst. „Bei allen WMs fehlte ein Treff für Fans.“

Also schafft er sich diesmal seine eigenen Treffs. Der Fantreff Nord soll nordwestlich von Berlin entstehen, in Paaren im Glien. Das Dorf im Havelland hat 615 Einwohner, von Berlin aus fährt man zuerst eine halbe Stunde mit der U-Bahn, anschließend eine Stunde mit dem Bus über Land. Hier herrscht zwischen Backsteinkirche, Reitpensionen und der Kunst des Buttermachens im Museum am Dorfanger dörfliche Beschaulichkeit. Krämer hat es auf das 22 Hektar große Gelände des Märkischen Ausstellungs- und Freizeitzentrums (MAFZ) abgesehen. Dort finden in der Brandenburghalle normalerweise Landwirtschaftsausstellungen statt, es werden Rassekatzen gezeigt und Beach Partys veranstaltet. Das angeschlossene Restaurant „Märkischer Landmann“ wirbt mit „Gaumenfreuden aus Brandenburg in hoher Qualität“. Krämer hat mit dem MAFZ einen Vertrag geschlossen, nun steht das „Fanprojekt 2006“ im Veranstaltungsprogramm zwischen der Oldtimershow Anfang Juni und den Fjordpferdetagen Mitte Juli.

Im Havelland liegt die Arbeitslosenquote bei 19 Prozent. Da füllt sich im Märkischen Landmann schnell ein Tisch, wenn einer wie Krämer zum Gespräch bittet. Einer, der Arbeit hat, wenn auch nur für wenige, wenn auch nur für vier Wochen. In das rustikale Restaurant mit viel Holz und röhrenden Hirschen hält bei Spanferkel und Bratkartoffeln die Fußballweltmeisterschaft 2006 Einzug. „Wir sind schon dabei, einen Bewerberpool zu bilden“, sagt eilfertig Gert Weinreich. Der Geschäftsstellenleiter der Arbeitsagentur aus der Kreisstadt Nauen ist ein freundlicher Herr in grauem Anzug und mit grauem Schnauzbart. Bisher gebe es 200 Bewerber aus der Region, sagt er, „die enthusiastisch dabei sein wollen“.

Weinreich glaubt nicht, dass die WM Deutschland in ein Land der Glückseligen verwandeln wird. „Aber sie ist eine wichtige Größenordnung, im Großen wie im Kleinen“, konstatiert er und blickt zu Krämer hinüber. Der gibt ihm seine Zustimmung durch ein Kopfnicken zu verstehen und beschreibt seinen Bedarf. „Für Catering, Service und Infotheke brauche ich acht bis fünfzehn Leute pro Tag, an sieben Tage die Woche.“ Die Bewerber sollen flexibel und bereit sein, auch in den Abendstunden zu arbeiten. „Dann ist hier richtig Party.“

Monika Müller, seit neun Jahren Pächterin des Märkischen Landmann, ist da weniger euphorisch. Die 59-jährige, zupackende Frau in ihrer weißen Bluse, interessiert sich für Portionsgrößen, Kalkulationen und Fleischlieferanten. Sie will wissen, worauf sie sich einstellen muss. „Ist die Gaststätte voll“, sagt sie, „habe ich meine Schäfchen im Trockenen. Halte ich mich zurück, und das Projekt läuft, dann ärgere ich mich.“ Entschlossen fegt sie Krümel vom Tisch. „Das lohnt sich ja schon, wenn nur hundert Leute am Tag kommen.“ Das wären mehr als sonst. Während Ulrich Krämer von dem bevorstehenden Ausnahmezustand in der Mark Brandenburg schwärmt, bleibt Monika Müller auf dem Boden. Unterschrieben hat sie den Vertrag über den Verkauf der Cateringrechte nicht. Noch nicht.

Krämer hat aber erst einmal ein anderes Problem: In Paaren sammelt eine Bürgerinitiative Unterschriften gegen sein Zeltdorf. Sprecher ist Burkhard Mertke, er betreibt gegenüber vom „Fantreff“ mit seiner Frau eine Pferdepension. Im Herbst letzten Jahres war Mertke auf der Pressekonferenz im MAFZ, auf der Krämer sein Fanprojekt vorstellte. Damals hat er ihn gefragt, wie für die Sicherheit im Dorf gesorgt werde und wer für Vandalismusschäden aufkommt. Schließlich ist die Rede von zusätzlichen 10.000 Tagesbesuchern in bester Partylaune. „Herr Krämer wollte sich erkundigen“, sagt Mertke, „aber bisher sind diese Fragen nicht geklärt.“ Deshalb sammelt er Unterschriften. Etwas mehr als das halbe Dorf, 370 Einwohner, haben bisher unterschrieben. „Da rollt etwas auf uns zu, das niemand im Griff hat“, fürchtet er.

Heute Abend tagt im Paarener Jugendclub der Ortsbeirat, öffentlich. Einziger Tagesordnungspunkt: das „Fanprojekt“. Ob Krämer, der Ende Februar einen Bauantrag für die Zeltstadt gestellt hat, aber kommen wird, will er relativ kurzfristig entscheiden. „Ich muss sehen, ob ich andere Termine verschieben kann“, sagt er.

Denn Krämer ist enttäuscht. „Die Bereitschaft, das Motto ‚Die Welt bei Gast zu Freunden‘ umzusetzen, ist nicht flächendeckend der Fall.“ Krämer verweist auf den Sicherheitsdienst, den er engagiert hat, und auf eine mobile Wache, die die Polizei des Landkreises erwägt.

Der Bürgermeister der Gemeinde, Bodo Oehme (CDU), ist etwas irritiert. „Ende Februar hat er seine Teilnahme zugesichert. Ob er nun kommt, muss er selber wissen. Ich hab ihn persönlich eingeladen.“ Oehme ist daran gelegen, das Prozedere zum Bauantrag schnell über die Bühne zu bringen. Nächste Woche wird die Gemeindevertretung beraten, danach müsste der Landkreis entscheiden.

Vielleicht liegen bei Ulrich Krämer auch nur die Nerven blank. Den ersten Dämpfer verpasste ihm im letzten Sommer das WM-Organisationskomitee. Krämer nahm Kontakt auf, weil er mit seinem Projekt in den offiziellen „Fanguide“ aufgenommen werden wollte. „Ein ganz, ganz wesentlicher Baustein.“ Um „markentechnisch an die Fans zu kommen, um bei der Sicherheit zusammenzuarbeiten“. Doch die Fifa ließ ihn abblitzen. Mit einer Begründung, die absurd klingt, bedenkt man, dass derzeit kein Fußballer einen Furz lassen kann, ohne dass der Weltfußballverband seine Urheberrechte daran geltend macht. „Sie wollen uns nicht, weil sie uns als kommerzielles Projekt einstufen“, empört sich Krämer. 30 Prozent Rendite hat er seinen Sponsoren für ihr Risikokapital versprochen.

Damals, als die Fifa blockte, stellte sich Krämer eine Frage: „Macht es Sinn, weiterzumachen oder erzwinge ich was?“ Er entschied: Es macht Sinn. Zusammen mit seinem Bruder und drei weiteren Fußballfans erarbeitet er seitdem Konzepte zur Sicherheit, zum Brandschutz, zur ärztlichen Versorgung. Er verhandelt mit Busunternehmen über Transfers, er erstellt eine Datenbank, in die die Personalien der Fans eingespeist und im Bedarfsfall an die Polizei weitergegeben werden können. Und nun droht ihm beim „Fantreff Nord“ der Platzverweis.

In Mendig bei Köln, dem „Fantreff Mitte“, wurde er bereits vom Platz gestellt. Er ist an den Auflagen für die medizinische Versorgung gescheitert. Krämer hat jedoch Ersatz gefunden: Eine Wiese am Dortmunder Flughafen wird die neue Zeltstadt für 2.000 Fans.

Nur im „Fantreff Süd“, neben der Arena Hohenlohe in Ilshofen im Landkreis Schwäbisch Hall, läuft alles nach Plan. Als Betreiber hat Krämer den CDU-Bundestagsabgeordneten Christian von Stetten (CDU) gewonnen, in dessen Wahlkreis Ilshofen liegt. Von Stetten spielt in der Bundestagsmannschaft, er hat Erfahrungen als Eventmanager und Konzertveranstalter. „Bevor das scheitert, mache ich das“, begründet von Stetten seinen Einsatz für das Projekt.

250.000 Übernachtungen braucht Krämer, um nicht in die Verlustzone zu geraten. Bisher hat er 18.000 Buchungen, ein Drittel davon sind „VIP-Tickets“: Für 295 Euro können deren Inhaber zwischen den drei Standorten pendeln. „Es ist im Fluss“, sagt Krämer dazu. Er klingt wie ein Trainer, der weiß, dass seine Mannschaft keine wirkliche Chance hat und trotzdem mit der Hoffnung auf einen Sieg antritt.

Fußball hat für Krämer mit „höchsten Glücksgefühlen“ zu tun. „Es klingt profan“, sagt er, „aber es ist so.“ Krämer selbst hat sich für die WM ein „Team Specific Ticket“ gekauft. Mit dem kann er sieben Spiele sehen, von der Eröffnung bis zum Finale. Lange bevor Krämer das Ticket hatte, hat er kreuz und quer durch Deutschland Hotelzimmer reserviert. Er wird also nicht in den Fantreffs übernachten, die er früher so vermisst hat. So fußballverrückt ist Krämer dann doch wieder nicht.