Peilen, wie die Uni tickt

BOTSCHAFTEN Fußnoten einer jeden Universitätsgeschichte sind die Flugblätter der Studenten. In Hamburg werden sie in einem Archiv gesammelt

Bildergalerie im Netz: Welches sind die lustigsten, radikalsten, einfallsreichsten Flugblätter? Auf www.taz.de gibt es eine Bildergalerie mit einer Auswahl der Flugblätter aus dem Hamburger Archiv zu sehen.

Ausstellung: Im taz-Labor Bildung zeigen wir in einer Ausstellung exklusiv einen Ausschnitt der Flugblattsammlung: „Kommet alle und seht her!“ Das taz-Labor Bildung zum Thema „Welche Universitäten wollen wir?“ findet am 24. April 2010 im Haus der Kulturen in Berlin statt – mit insgesamt 25 Veranstaltungen, Podien, Workshops und Vorträgen. Tickets gibt es im tazshop oder auf www.tazlab.de

VON GINA BUCHER

Neun Treppenstufen führen im Hauptgebäude der Universität Hamburg hinunter in die Bibliothek für Universitätsgeschichte. In einem kleinen Raum mit verschiebbaren Buchgestellen stehen ganz hinten rund fünfzig Ordner aufgereiht – mit Flugblättern von 1967 bis heute. Sie sind die Fußnoten der offiziellen Universitätsgeschichte, kommentieren teils polemisch, teils humorvoll, doch immer unerbittlich die Freuden und Leiden des Hamburger Hochschulalltags.

Immer wieder liest man in den Ordnern Aufrufe wie: „Sprengt die Zwischenprüfung!“, „Exzellent boykottieren!“, „Stoppt das Wettrüsten!“, „Für die freie Wahl der Seminare!“ 1967 fragte der Asta auf einem Flugblatt: „In welchen sexuellen Vorstellungen schlägt sich eigentlich Ihr Reifezeugnis oder das Ergebnis Ihrer Zwischenprüfung nieder?“ – während der CDU-nahe RCDS wissen will: „Studenten! Wollt ihr die totale Diktatur einer Minderheit dialektischer Schwätzer?“

In unregelmäßigen Abständen – doch in Spitzenzeiten täglich – wiesen Flugblätter namens „Rädelsführer-info“, „Kontakt“, „Uni-Panorama“, „Phil-“, „Asta-“ oder „Päd-Info“ auf die Missstände an der Universität und überall sonst in der Welt hin. Blättert man heute durch die Sammlung, wiederholen sich die Themen, für die es sich damals wie heute zu kämpfen lohnt: zu hohe Gebühren, bevorstehende Reformen, überteuerter Wohnraum und ungerechte Numeri Clausi.

Textwüsten und Radikal-Rhetorik

Dass Steine in früheren Jahrzehnten schneller flogen als heute, unterstreicht auch die Rhetorik der Flugblätter aus dieser Zeit: Aggressiv und radikal heischte jedes einzelne um Aufmerksamkeit für Vollversammlungen, Diskussionen, Stupa-Wahlen, politische Filmabende, Blockaden, Boykotte, Teach-ins, Solidaritätsrevuen genauso wie Erstsemesterpartys und Kostümfeste. Das Wort „faschistisch“ verschwindet erst erstaunlich spät aus der allgemeinen Flugblatt-Rhetorik – und auch nicht komplett.

Chile, Griechenland, Afghanistan und Iran beschäftigen auch in vergangenen Jahrzehnten die Studenten, wenn auch nicht wegen Erdbeben, Finanzkrise, Bundeswehreinsatz oder Atomstreit, sondern deren Kriegen und ihrer autoritären, angeblich vom CIA gestützten Systeme wegen.

„Die Sammlung ist eine ergiebige Quelle für die Erforschung studentischer Politik und Kultur an der Hamburger Uni und ihrer Veränderungen im Wandel der Zeit“, erklärt Rainer Nicolaysen, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte. Während die früheren Flugblätter als kompakte Textwüsten, kleinteilig geschrieben und auf Wachsmatrizen abgezogen, von der felsenfesten Überzeugung gesellschaftlicher Veränderungen erzählen, dominieren heute bei den Wahlkämpfen für das Studentenparlament einheitliche Corporate Designs.

Unterzeichnet waren und sind die Flugblätter von vielen Abkürzungen, die jeweils für einen der zahlreichen Studierenden-Verbände stehen: Asta (Allgemeiner Studierenden-Ausschuss), VDS (Vereinigte Deutsche Studentenschaften), RCDS (Ring Christlich-Demokratischer Studenten), SSB (Sozialistischer Studentenbund), oder mit „Aktion 68“, „Junge Union Hochschulgruppe“, „MSB Spartakus“.

Bis auf Lücken in den Achtzigerjahren ist die Flugblattsammlung nahezu komplett. Während der ersten Jahrzehnte beansprucht jedes Semester gleich mehrere Ordner voller Flugblätter, heute hingegen passt das Material mehrerer Semester in einen einzigen.

Das Projekt ist ein besonderes Anliegen von Eckart Krause, der es für die Uni Hamburg aufgebaut hat. Stolz zeigt der 66-Jährige, der bis zu seiner Pensionierung die Hamburger Bibliothek für Universitätsgeschichte leitete, ein nach dem gemeinsamen Mittagessen in der Mensa ein ergattertes Flugblatt. Ursprung der Sammlung ist eine Schenkung, seit Ende der Achtzigerjahre sammelt Krause die Flugblätter aktiv. Gerne erzählt er die Anekdote, wie einst Aktivisten an die Fensterscheiben seines ebenerdigen Büros klopften, um ihm druckfrische Blätter zu überreichen.

Je politischer ein Flugblatt formuliert ist, desto wilder ist die Typografie gesetzt

Die sogenannten Flugis kommentierten nicht nur, was die Obrigkeiten falsch machten, sie spiegelten auch den Alltag wider: Sie informierten, wo man Antibabypillen in der Stadt am leichtesten erhält, wie man zu Stipendien kommt, und rekrutierten neue „Papierkrieger fürs Hektographieren“, also das Kopieren, für die nächsten Aktionen.

Und die Flugblätter bestätigen auch Klischees: Die Proteste sind meist auf Fächerebene organisiert – und da liest man von BWLern weniger, von den Erziehungswissenschaftlern und Philosophen mehr. Die Motivation, ein bestimmtes Fach zu ergreifen, widerspiegle meist auch ein bestimmtes Gesellschaftsverständnis, sagt Krause.

In den Sechziger- bis Achtzigerjahren sahen sich die Studenten eher als Teil eines großen Ganzen. Heute dagegen verstehen viele von ihnen sich als Einzelkämpfer, unter anderem wegen der Bologna-Reform. Die zwingende Vorgabe, ständig die eigene Exzellenz zu beweisen, zeigt sich auch bei aktuellen Flugblättern, die wie professionelle Flyer gestaltet sind.

Die bunten Angebote in Postkartengröße, die heute überall in der Uni ausliegen, bieten den Studenten Nachhilfestunden, Sprachkurse, Einladungen zu Job-Assessments an und begrüßen sie bereits im Arbeitsmarkt. Auch von solchen legt Krause ein paar in der Flugblattsammlung ab: Für ihn sind sie Botschaften der Leistungsgesellschaft und zeigen, wie der Kommerz die Universitäten längst entdeckt hat. „Herkömmliche“ Flugblätter gibt es zwar immer noch, doch die Mobilisierung findet heute eher über digitale Netzwerke und E-Mail-Verteiler statt.

Nicht nur die Inhalte, auch die Drucktechniken und damit die Ästhetik der Flugblätter haben sich seit 1967 verändert: Je weiter man in der Sammlung zurückblättert, umso häufiger begegnet man Handschrift, Karikaturen – und auch Tippfehlern. Die meisten davon fanden sich bei den Germanisten, sagt Krause. „Einzig die Studentenzeitschrift der Marxistischen Gruppe war auffällig fehlerfrei.“ Das Spektrum reicht von einfallsreichem Umgang mit Schreibmaschinen über Wachsmatrizen, den typischen Xerox-Look bis zu Hochglanz. Als Faustregel gilt: Je politischer ein Flugblatt formuliert ist, desto wilder ist die Typografie gesetzt. Durch die Professionalisierung haben die heutigen Exemplare an improvisiertem Charme verloren. Die Tippfehler, die man auf den Matrizen mit Nagel- oder Korrekturlack korrigieren konnte, sind seither rar geworden.