Phantomschmerzen kurieren

ARTHOUSE Nach Jahren des Stillstands erlebt der philippinische Independentfilm derzeit einen Boom. Das Zeughauskino zeigt eine Auswahl von Produktionen aus der vergangenen Dekade

Fast alle Filme aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg sind heute verloren

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Zu Beginn des neuen Jahrtausends schien das Kino der Philippinen in seinen letzten Zügen zu liegen. Das Land hatte in der Nachkriegszeit eine der produktivsten Filmindustrien der Welt gehabt, die Ende der 50er Jahre mehr als 300 Filme pro Jahr in die Kinos brachte. In den 70er und 80er Jahren reüssierte eine Gruppe von Autorenfilmern wie Lino Brocka, Mike De Leon, Kidlat Tahimik und Ishmael Bernal auf internationalen Festivals mit ihren Werken. Aber ums Jahr 2000 war der Output des Landes auf 30 bis 40 Filme jährlich zusammengeschrumpft. Diese Filme – meist Actionfilme, alberne Komödien und seifige Melodramen bar jedes künstlerischen Anspruchs – konnten sich in den Kinos nur noch selten gegen die Konkurrenz aus Hollywood durchsetzen.

Doch dann kamen um 2000 die ersten digitalen Videokameras, die sich auch Mittelklasse-Filipinos leisten konnten, in das Entwicklungsland und lösten eine vollkommen unerwartete Renaissance des lokalen Kinos aus. Die Filmfestivals Cinemalaya und Cinema One Originals finanzieren jedes Jahr bis zu 20 neue Filme, die oft mit weniger als 10.000 Euro gedreht werden. Inzwischen werden in den Philippinen jährlich mehr Independent- als Mainstream-Filme produziert.

So wurde das Land innerhalb weniger Jahre vom kinematografischen Terra incognita zum Arthouse-Geheimtipp. Die Indie-Filme eroberten die internationalen Festivals, und Regisseure wie Brillante Mendoza, Raya Martin und Lav Diaz wurden zu international gewürdigten Filmautoren. Das Zeughauskino zeigt nun einen Überblick über die philippinische Indie-Produktion der letzten zehn Jahre.

In den Philippinen sehen viele Intellektuelle den Boom des Indie-Kinos übrigens skeptisch. Der Filmprofessor Rolando Tolentino kritisiert zum Beispiel die Konzentration auf Elend und Armut, die einem westlichen Exotismus zuspielen würde, und den mangelnden Stilwillen vieler philippinischer Regisseure. Die meisten der Produktionen würden es nie in die Kinos der Philippinen schaffen, sondern nur für internationale Festivals produziert.

Einige der philippinischen Indie-Filme kamen allerdings auch beim breiten Publikum an. Dank einer cleveren Werbekampagne lief Auraeus Solitos „The Blossoming of Maximo Oliveros“ von 2005 auch in den Shopping-Mall-Kinos von Manila mit Erfolg. Damals waren digitale Filmproduktionen noch so neu, dass die Kinos sich neue Projektoren anschaffen mussten, um den Film zeigen zu können. Er erzählt von der platonischen Liebe zwischen einem Streifenpolizisten und einem Gettojungen mit transsexueller Neigung. Der Film, der in der Retrospektive des Zeughauskinos zu sehen ist, lief 2005 bei der Berlinale und gewann sowohl den Preis des Deutschen Kinderhilfswerks wie den Teddy Award, den schwul-lesbischen Filmpreis – eine Kombination, die es so noch nie zuvor gegeben hatte.

Zu den Höhepunkten der Reihe gehören die deutschen Erstaufführungen der beiden neuen Filme von Lav Diaz, der für seine überlangen, manisch-depressiven Filme bekannt ist. Auch die beiden Werke, die im Zeughauskino gezeigt werden, sind kinematografische Ausdauertests: Beide dauern sechs Stunden. „The Century of Birthing“ erzählt als Film-im-Film von der Sinnkrise eines Regisseurs. „Florentina Hubaldo“ handelt vom Leiden eines missbrauchten Mädchens in der philippinischen Provinz, das schließlich vor ihrem gewalttätigen Vater in die Großstadt flüchtet.

Der andere große Extremist des philippinischen Kinos ist Khavn de la Cruz: Regisseur, Komponist, Schauspieler, Dichter und wohl einer der produktivsten Filmemacher der Gegenwart, der seit 2004 mehr als 40 Spiel- und Dokumentarfilme gedreht hat. Von ihm ist in der Reihe der experimentelle Liebesfilm „Cameroon Love Letter (for Solo Piano)“ (2010) zu sehen.

Ein besonderer Leckerbissen in der Filmreihe ist „Independencia“ (2009) von dem jungen Regisseur Raya Martin, der mit diesem Werk die verlorene Kinogeschichte der Philippinen zu rekonstruieren versucht. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte das Land mehrere Filmstudios, doch fast alle Filme aus dieser Zeit sind heute verloren. (Man stelle sich vor, in Deutschland seien alle Stummfilme von Murnau, Lang und Pabst verschollen!)

Martin versucht sich mit „Independencia“ vorzustellen, wie es gewesen sein könnte: In Schwarz-Weiß mit gemalten Hintergrundbildern gedreht will der Film die Phantomschmerzen kurieren, unter denen das philippinische Kino wegen des fast vollständigen Verlustes seiner frühen Filmgeschichte leidet.

■ Kinematografie heute – Philippinen: 7.–25. August, Zeughauskino, Unter den Linden 2 Programm: www.dhm.de/kino

■ 2012 erschien Tilman Baumgärtels Buch „Southeast Asian Independent Cinema“ bei Hong Kong University Press