Abtauchen im Palau Sant Jordi

BLEIERNE ENTEN Die deutschen Schwimmer machen da weiter, wo sie in London aufgehört haben: Sie schwimmen fast immer hinterher. Woran liegt das nur?

„In diesem Sommer werden mal radikal Konsequenzen gezogen. Weil so kann’s ja nicht weitergehen“

MARCO DI CARLI, FREISTILSPEZIALIST MIT FORMSCHWANKUNGEN

AUS BARCELONA ANDREAS MORBACH

Mit einem plötzlichen Ruck warf Marco di Carli seinen Kopf auf die Seite. Und während der Freistilspezialist von der SG Frankfurt versuchte, das Chlorwasser aus seinem linken Ohr zu bekommen, meinte er gleichzeitig: „Ja, ruhig weiter.“ Sollte heißen: ruhig die nächste Frage stellen zu seinem verstörenden Vorlauf über 100 Meter Freistil, auf die er doch wieder keine brauchbare Antwort geben könne.

Höhen und Tiefen hat di Carli in der Vergangenheit einige erlebt, doch diesmal war der Seelenzustand des 28-Jährigen geradezu besorgniserregend – zumindest gemessen an seinen drastischen Begrüßungsworten am Mittwochmorgen. „Wer gibt mir ’ne Knarre? Erschießt mich bitte“, lautete di Carlis erster Kommentar, nachdem er im Vorlauf über die zwei Bahnen Kraul eine indiskutable Zeit (50,38 Sekunden) vorgelegt und als 36. nicht nur deutlich das Halbfinale verpasste hatte, sondern dabei auch um knapp eine Sekunde langsamer gewesen war als Schwimmer aus Venezuela, Paraguay, der Türkei oder Hongkong. „Das war die größte Scheiße, die ich je bei einem internationalen Event abgeliefert habe“, meinte der Kraulschwimmer.

„Bei mir ist der Punkt erreicht, wo ich mich frage, wofür ich den ganzen Aufwand betreibe. Ich muss mich drastisch hinterfragen: Wo geht’s eventuell noch hin? Und wie komm ich da hin? Oder lass ich es direkt sein?“ Dann sagte er: „In diesem Sommer werden mal radikal Konsequenzen gezogen. Weil so kann’s ja nicht weitergehen.“

Chefbundestrainer Henning Lambertz, der kurze Zeit später hinter den Kulissen der WM-Arena vorsprach, will da gar nicht widersprechen. Nicht im speziellen Fall di Carli und nicht in der fortgesetzten Krisengeschichte der DSV-Schwimmer allgemein. Mit dem Hamburger Steffen Deibler hat der Verband ein Jahr nach der historischen Nullnummer von London nur einen einzigen international vorzeigbaren Athleten aufzubieten – und dahinter gähnt die große Leere.

Mit Paul Biedermann (wegen einer verschleppten Infektion zu Jahresbeginn in Barcelona gar nicht am Start) und dessen Freundin Britta Steffen (bezeichnete sich nach der 4 x 100-Meter-Freistilstaffel als die „Einäugige“ im DSV-Quartett) fällt für die nötigen Motivationszwecke diesmal selbst das nationale Vorzeigeduo der letzten Jahre weg. Sein ohnehin schon vorsichtiges WM-Ziel, wonach 70 Prozent der DSV-Schwimmer ihre Leistung von den deutschen Meisterschaften Ende April verbessern sollten, hat Lambertz in Barcelona längst entsorgt. Und bei Halbzeit im Palau Sant Jordi richtet sich der Blick des Schwimmer-Chefs nun mehr denn je in die Zukunft.

Laut Lambertz will jetzt den Heimtrainern genau auf die Finger schauen. „Wir schaffen es immer ein Mal, bei den deutschen Meisterschaften alles rauszuholen – und danach nicht mehr“, analysiert Lambertz und seufzt dazu: „Dabei scheint es völlig egal zu sein, ob wir vor der WM vier, fünf, sieben, neun, elf, dreizehn oder fünfzehn Wochen Zeit für die Vorbereitung haben. Egal ob wir harte oder weiche Normen haben. Egal ob wir von alten Hasen oder ganz jungen Sportlern sprechen.“

Letztlich gibt es nur einen – sehr einfachen Weg – aus dem Dilemma. „Wir müssen mehr und intensiver trainieren“, fordert Lambertz und verweist auf den Kollegen Stefan Lurz. Der Coach der extrem erfolgreichen deutschen Freiwasserschwimmer lässt auch den Nachwuchs schon 2.500 oder 3.000 Kilometer im Jahr trainieren. „Das ist das, was ich auch von den Beckenschwimmern einfordere.“