berliner szenen Immer auf der Hut sein

Totschlagzone Neukölln

Ich wohne in der härtesten Bronx von Berlin. In Neukölln. Ich lese es jeden Tag, „Problembezirk“ ist noch das mildeste Wort, das fällt, wenn es darum geht, Neukölln zu beschreiben. Im Kino ist zu sehen, wie's hier zugeht, im Radio ist es zu hören und selbst „Report München“ berichtet von der Totschlagzone am Karl-Marx-Platz. Sogar der Bezirksbürgermeister warnt vor seinen Wählern. Und ich weiß Bescheid. Ich überprüfe stets mein Outfit. So auch jetzt. Fällt die Bomberjacke locker? Sitzt die schusssichere Weste richtig? Werde ich schnell genug nach dem Butterflymesser greifen können, um verirrte Touristen gegen minderjährige Mordbuben zu verteidigen?

Ja, alles sitzt. Ich trete auf die Straße. Emserstraße. Alles ruhig. Das heißt noch gar nichts, das könnte eine Finte sein. Ich bleibe im Hauseingang, wende, scheinbar unachtsam, der Straße den Rücken zu und entzünde eine Zigarette. Dabei kann ich aus den Augenwinkeln die Lage checken. O.k., alles sauber. Ich drehe mich wieder um. Dann schlendere ich betont lässig die Straße herunter, die Hände ebenfalls betont lässig in den Jackentaschen, niemand kann den Totschläger sehen, den ich in der Tasche umklammere. Straßenecke, Ilsestraße. Vorsicht ist geboten! Da! Ein kurzes Erschrecken doch, nein, falscher Alarm, es ist nur einer wie ich. Einer, der aufpasst.

Bis zur Hermannstraße dann keine weitere Gefahr. Ich gehe in den Supermarkt, Milch kaufen. Und bereite mich schon auf den Rückweg vor, spanne die Muskeln an beim Schlangestehen. Nicht aus der Übung kommen, sage ich mir, immer üben. Dann sagt die Kassiererin zu einem Kunden: „Hier ist wieder nichts los.“ Sie muss verrückt sein! Völlig irre! Ey, dies ist Neukölln, nicht Steglitz! Das ist Krieg! Weiß man doch! JÖRG SUNDERMEIER