Das alte Plädoyer für den Nationalstaat

Für den polnischen Staatspräsidenten Łech Kaczyński steht Souveränität vor der EU-Integration

Die EU kann für Länder wiePolen nur als StaatenbündnisBestand haben

BERLIN taz ■ Staatspräsident Łech Kaczyński hatte bei seinem gestrigen Vortrag im Audimax der Berliner Humboldt-Universität eine sanfte Schalmei intoniert. Nichts gegen die Europäische Union – sie habe auf dem Kontinent eine Friedensidee verankert, die nicht mehr vom bewaffneten Gleichgewicht der Kräfte abhängig ist, sondern von der Solidarität der Völker untereinander. Dann aber folgte das altbekannte Plädoyer für den Nationalstaat. Er sei es, in dessen Grenzen sich der demokratische Prozess abspiele, und alle Legitimation politischen Handelns müsse sich auf ihn beziehen. Was aber die Staaten des ehemaligen sowjetischen Hegemonialbereichs, die erst 1989 frei wurden, anlangt, so sei für sie die wiedergewonnene Souveränität das höchste Gut. Deshalb könne die EU für Länder wie Polen nur als Staatenbündnis Bestand haben. Für alles darüber hinaus gilt: Gut gemeint, aber viel zu früh.

Kaczyński versicherte, für ihn bleibe die wiedergewonnene Souveränität Polens und damit das Jahr 1989 sein wichtigstes Lebensdatum. Erneut zeigte es sich, dass für ihn Supranationalität nur in den überkommenen Staatskategorien existiert. Weshalb er zukünftige föderale Strukturen in der EU nur als „Quasistaat“ begreifen kann und sie ablehnt.

Zum „solidarischen Europa“, dem Thema seines Vortrags, wusste Kaczyński herzlich wenig zu sagen. Außer einem Halbsatz, mit dem er den Neoliberalismus als ökonomisches Allheilmittel in Zweifel zog, spielten Fragen der ökonomischen und sozialen Solidarität innerhalb der EU keine Rolle. Stattdessen breitete sich der Präsident über die Notwendigkeit gemeinsamer europäischer Streitkräfte aus, eines integrierten Eurokorps, zu dem Polen gern beitragen würde. Auch sein zweites Beispiel, die europaweite Bekämpfung der Kriminalität, packte das Thema Solidarität vom Sicherheitsaspekt her an, also von der Angst her und nicht von einem möglichen solidarischen Handeln der EU-Bürger. Auch dies Ausdruck einer autoritären Auffassung, die um hoheitliches Handeln und um Repressionsorgane zentriert ist.

Im Vorfeld seiner Vorlesung hatte Kaczyński noch vom Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit als einem der Hindernisse des Integrationsprozesses gesprochen. Ihm widmete der Präsident nur die Bemerkung, dass ein Pole die Verhältnisse in Portugel nicht kenne und vice versa ebenfalls. Tatsächlich sieht Kaczyński die Öffentlichkeit, insbesondere die Medien, als potenziellen Feind, wie der jüngste Versuch, in Polen ein Medienkontrollorgan zu schaffen, beweist.

CHRISTIAN SEMLER