„Identität ist ein Zeitgeistding“

KRISEN In ihren Büchern geht es darum, wo wir eigentlich hingehören. Auch weil Jeanette Winterson adoptiert wurde. Die englische Schriftstellerin über die Kraft der Worte, Kreativität und die Liebe

■ Die Schriftstellerin: Jeanette Winterson wurde 1959 in Manchester geboren und von einem Ehepaar, das zur evangelikalen Gemeinde gehörte, adoptiert. Mit 16 zog sie von zu Hause aus, weil sie sich in ein Mädchen verliebte. Das passte nicht ins Konzept der Sekte

■ Das Werk: Mit 26 Jahren veröffentlichte Winterson ihr erstes Buch „Orangen sind nicht die einzige Frucht“ – ein preisgekrönter und verfilmter Roman, der biografische Züge trägt. Bis heute hat sie 19 weitere Bücher veröffentlich. In ihrem jüngsten Buch „Warum glücklich statt einfach nur normal?“ nimmt sie die Spur ihres ersten Romans wieder auf. Diesmal indes als unverschleierte Biografie.

GESPRÄCH WALTRAUD SCHWAB

sonntaz: Frau Winterson, Sie sind eine der populärsten Schriftstellerinnen in Großbritannien, in Deutschland jedoch eher unbekannt. Deshalb müssen wohl auch Grundlagen zu Ihrem Werk abgefragt werden.

Jeanette Winterson: Nein, bitte nicht. Das kann man alles nachlesen. Wer’s wissen will, findet’s. Ich will, dass Sie mir richtige Fragen stellen.

Oh. Vielleicht die: Ihre Mutter wollte, dass Sie Missionarin werden. Sie sagten, Sie seien es geworden. Sie seien eine Missionarin des Wortes. Welchen Wortes?

Es gibt nur ein Wort, wie Leonard Cohen gesagt hat: das heilige oder das gebrochene Halleluja. Das Wort ist Wort. Das Wort ist Sprache. Das ist, was zählt. Man muss einen Weg finden, wie man ausdrücken kann, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Man muss einen Weg finden in einer komplexen Welt, die süchtig nach Schlagworten und einfachen Lösungen ist, das Selbst zu erweitern, anstatt es auf Schlagzeilen zu schrumpfen. Maschinen werden immer komplexer, aber die Kommunikation zwischen den Menschen wird immer simpler und dümmer. Das will ich nicht.

Sie reden wie eine Predigerin, dabei sind Sie doch eine Missionarin des geschriebenen, nicht des gesprochenen Wortes.

Da gibt es keinen Unterschied. Sprache fängt im Mund an, bevor sie auf dem Papier landet. Wir hören, bevor wir lesen.

Ihr letztes Buch ist eine Biografie: „Warum glücklich statt einfach nur normal?“. Darin steht, dass die Kommunikation zwischen Ihnen und Ihrer Mutter nicht wirklich funktioniert hat. Also ist das Wort doch nicht Wort.

Trotzdem war das Kommunizieren in unserer Familie sehr wichtig. Bei uns wurde jeden Tag die Bibel gelesen. Das ist ein Riesending in einem Kinderleben, das modelliert die Art, wie du hörst, wie du sprichst und später auch wie du schreibst.

Heißt das, es gab zwei Kommunikationsstränge: die fiktionale Erzählung in der Bibel und die konfliktbeladene Wirklichkeit mit Ihrer Mutter?

Die Bibel wurde damals weder in unserer Familie noch bei den Evangelikalen, zu denen wir gehörten, als Fiktion verstanden, sondern als reales Geschehen. Deshalb nahm ich auch keinen Bruch wahr zwischen dem, was in der Bibel steht, und dem, was in der Familie passierte. Bei den Evangelikalen geht es nicht um Interpretation. Für manche Religionen, wie das Judentum, ist die Schrift eine Ergänzung, für andere ist sie das Wichtigste überhaupt. Das ist einer der Gründe, warum ich den Evangelikalen den Rücken kehrte, dass bei denen nichts ging jenseits des Wortes. Aber wenn man kreativ sein will, dann muss man über das Wort hinausdenken dürfen.

Sie haben sich als Teenager auch von A bis Z durch die Romane der Stadtbibliothek gelesen. Ihre Welt habe, sagen Sie, aus Büchern bestanden, weil es andere Ablenkung im Nordengland der sechziger, siebziger Jahre nicht gab. Haben Sie durch die Belletristik gelernt, über das Wort hinauszudenken, wenn es mit der Bibel schon nicht klappte?

Die Romane waren eine Möglichkeit, aus der Wirklichkeit zu fliehen. Die Bibel war die Wirklichkeit. Ich gehörte zur evangelikalen Gemeinde, ich ließ mich begeistern davon. Ich glaubte es und es war real. Man kann mich nicht verstehen, wenn man das nicht versteht.

In der Biografie entsteht der Eindruck, dass es um permanente Auseinandersetzung mit Ihrer Mutter, die ja eigentlich Ihre Adoptivmutter war, ging. Impliziert das nicht, dass auch Ihr Verhältnis zur Kirche ständigem Widerspruch von Ihnen ausgesetzt war?

Nein. Meine Mutter war verrückt, aber die Verrücktheit war für mich real. Der Konflikt eskalierte erst, als ich mich in ein Mädchen verliebte. Damit geriet ich nicht nur in Widerspruch zu ihr, sondern auch in Widerspruch zu den Evangelikalen. Das gilt doch für viele Familien: Irgendwie arrangiert man sich, bis die Herausforderung zu groß wird. Und Liebe ist immer eine Herausforderung. Wenn du dich aus Sicht deiner Familie in die falsche Person verliebst, brechen die unter dem Deckel gehaltenen Konflikte auf. Es ist Romeo und Julia.

Sie waren 14, als Sie sich in ein Mädchen verliebten.

Ja, aber ich bin erst mit 16 ausgezogen.

Offensichtlich konnte Ihre Familie Sie nicht brechen.

Das stimmt. Ich lasse mich nicht brechen. Ich würde eher unter dem Schwert sterben, als nachzugeben.

Woher kommt diese Widerständigkeit?

Das weiß ich nicht, und man wird es auch nicht wirklich beantworten können, warum manche Menschen in schwierigen Situation stärker werden und andere untergehen. Mein Widerspruchsgeist war groß und er war da. Bei mir ging es um Geschichte. Ich war fähig, mich selbst als Fiktion zu begreifen und mich wie eine Geschichte zu erzählen. Und ich konnte Geschichten erfinden, in denen ich mich auch neu gedacht habe. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass ich nicht gehen und mein eigenes Leben leben könnte. Für mich stand die Fluchttür immer offen.

Sie sagen aber auch, dass Sie eine Überlebende seien.

Ich überlebte eine sehr schwierige Kindheit. Aber ich nehme mich nicht als Opfer wahr. Mein Glück war, dass ich gesehen habe: Sprache, Schrift kann mich aus einem realen Leben in ein anderes reales Leben führen. Und in dem anderen realen Leben kann es mir besser gehen.

Wie haben Sie die Fähigkeit entwickelt, selbst mit Sprache neue Wirklichkeiten zu schaffen?

Lesen hat mich eintauchen lassen in eine andere Welt, sei es die der Bibel oder der Romane. Dieser Ort, in den ich eintauchen konnte, hat mich angezogen. Und wie immer: Wenn man gut in etwas ist, versucht man noch besser zu werden. Da lag es nahe, dass ich genau das tun wollte, denn die Person, die ich war, wenn ich las – oder später schrieb –, das war ich. Jeder hat Begabungen, und wenn du wirklich Glück hast, dann findest du Möglichkeiten, diese Begabungen zum Blühen zu bringen. Das ist doch die Tragik in der Welt, dass die meisten nicht das machen können, wonach sie sich sehnen. Ich glaube, damit hängt auch viel Vandalismus und Gewalt zusammen.

Wie?

Weil Gewalt die letzte Bastion ist. Wie drückst du dich aus, wenn du keine Sprache hast? Und keine Chance, kreativ zu sein? Du wirfst ein Fenster ein oder schlägst jemanden zusammen. Gewalt entsteht in der Sprachlosigkeit.

Entsteht ein Buch nicht auch in Sprachlosigkeit?

Nein, in Sprache.

Aber wissen Sie am Anfang eines Buches, was Sie die nächsten zweihundert Seiten erzählen werden?

Auf gar keinen Fall. Ich starte in kompletter Dunkelheit. Fragen Sie jemanden auf dem Hochseil, wie er da oben zwischen zwei Hochhäusern geht. Er wird Ihnen keine Antwort geben können. Jemand, der ein Buch schreibt, wird Ihnen am Anfang auch nicht sagen können, wohin es ihn bis zum Schluss führt. Aber alles, was man kann, ist für einen selbst nicht schwer. Schreiben ist ein Teil von mir, wie jemand, der eine tolle Stimme hat und Sänger ist. Das Beste von mir steckt in den Büchern.

Wie fühlt sich Schreiben an?

Ich fühle nichts, ich bin absorbiert von der Arbeit. Es ist wie unter Wasser zu sein über Stunden und dann kommt der Moment, wo du wieder an die Oberfläche kommst. Es ist ein instinktiver, intuitiver Prozess, es steckt kein Plan dahinter. Ich arbeite jeden Tag, weil ich finde, dass man jeden Tag arbeiten sollte. An manchen Tagen passiert etwas, an anderen nichts. Ich bleibe trotzdem dort, in dieser Parallelwelt des Schreibens. Nur dumme Leute sagen: Oh, heute passiert nichts, heute mache ich was anderes. Tänzer und Musiker üben auch. Ich gehe an meinen Schreibtisch und bin in Sprache.

In Ihren Büchern geht es immer um Identität.

Deshalb liest man mich ja auch weltweit. Jeder kennt heute jemanden, der nicht von da ist, wo er lebt. Identität ist ein Zeitgeistding. Wo gehören wir hin? Adoption hat damit zu tun. Es ist nicht nur eine individuelle Geschichte, sondern die Geschichte unserer Zeit.

Sie sagten einmal, wenn Sie schreiben, wollen Sie die Leute anmachen, anspitzen, anturnen.

Ja, ich möchte, dass man mich hört. Dass die Leute mit mir in Kommunikation treten, dass man debattiert. Wenn sie nichts zu sagen haben, sagen sie nichts. Aber wenn sie etwas zu sagen haben, soll es über wichtige Dinge sein, real things. Die Welt ist in einem fragilen, gefährlichen Zustand. Ich finde, jemand, der schreibt, muss sich dieser Realität stellen. Er muss Änderung einfordern und sagen, wie es geändert werden kann.

Und was ist Ihre Message?

Es geht nicht um Message, ich bin keine Sprücheklopferin, keine Politikerin. Mich interessiert, wie wir als Menschen menschlich bleiben in einer Welt, die immer mehr verschleiert, was Menschlichkeit eigentlich bedeutet. Ich will eine Welt, in der es Meinungsfreiheit gibt, in der Menschen echte Chancen haben und nicht solche, die von PR-Agenten vorgezeichnet sind, eine Welt, in der Individualität entfaltet werden kann, nicht auf Kosten der anderen, sondern zum Wohle aller. Ich will eine demokratische Welt. Demokratie ist ein missbrauchtes Wort. In Wirklichkeit hat man keine Wahl, man kann nur zwischen fünfzig verschiedenen Waschmitteln im Supermarkt wählen. Die Vielfalt wird eingeebnet. Wir sehen das Gleiche, wir hören das Gleiche, wir streben alle nach dem gleichen Lebensstil.

Wir benutzen die gleiche Sprache.

Ja, die sehr vereinfachte Fernsehsprache. Eine Sprache, die längst nicht mehr das Instrumentarium ist, um das Leben in seiner ganzen kreativen Vielfalt zu beschreiben. Ich will aber, dass die Menschen ihre Kreativität leben können. Jedes Kind will ein Bild malen, eine Geschichte erzählen, einen Rhythmus auf dem Tisch klopfen, tanzen – und dann wird es ihm in der Schule ausgetrieben. Oh, Kreativität ist elitär, das ist nur für ein paar Leute, die das Geld und die Zeit haben. Es kann nicht sein, dass Arm oder Reich darüber entscheidet, wer sich wie entfalten kann. Die meisten Leute in der Welt sind eingezwängt, reduziert aufs Überleben. Ich hasse das.

Sie meinen, Kreativität ist ein Allheilmittel?

Ha, Leute werden doch seelisch krank, depressiv, traurig, wenn sie sich nicht entfalten können. Der Gebrauch von Antidepressiva ist stetig steigend. So viel Traurigkeit – das kann doch nicht sein. Wie kommt das? Solche Fragen will ich stellen. Auch wenn sie unpopulär sind. Ich muss nicht gemocht werden. Ich hänge nicht von Zuschauerumfragen ab. Ich muss auch nicht wiedergewählt werden wie ein Politiker und den Leuten deshalb nach dem Mund reden.

Wie sehen Sie die gesellschaftliche Situation in England? Die Schere zwischen Armen und Reichen ist doch enorm auseinander gedriftet.

Wie überall. Die Russen kaufen alles auf. Sie haben wahnsinnig viel Geld und keine Manieren. Du musst aufpassen, wenn sie dich mit ihrem Bentley fast überfahren und dabei noch anschreien. England wurde aufgekauft in den letzten Jahren, teils von Chinesen und Indern, aber meist von Russen.

Und Sie haben nichts dagegen, wenn Sie mit solchen Sätzen zitiert werden?

Nein. Keiner der reichen Russen, denen ich auf der Straße begegnet bin, hat Manieren. Weil sie reich sind, denken sie, sie können dich gerade so behandeln, wie es ihnen gefällt. Es ist eine delinquente Generation, sehr reiche Leute ohne soziale Verantwortung – das ist, was der Kollaps des sowjetischen Experiments sie lehrte. Ich kann nicht die Einzelnen beurteilen, aber in der Gruppe ist das auffallend. Es geht hier um die Struktur der Superreichen, die unsere Gesellschaften zerstören. Sie ziehen raus, was sie können, und tragen nichts dazu bei.

Wie reagiert die englische Regierung darauf?

Sie stoppt die Gier nicht. Sie haben ein paar lächerliche Steuerbestimmungen eingeführt, die für Reiche nur Peanuts sind.

Kann Lesen helfen? Sie sagten einmal, Lesen sei radikal.

Ja, weil es die Art ändern kann, wie du denkst, und niemand weiß, was in deinem Kopf vorgeht. Aber politisch gedacht: Die Superreichen weltweit müssen stärker besteuert werden. Oder veranlasst, totes Kapital, mit dem sie sich nichts mehr kaufen können, weil sie schon alles haben, in die Infrastruktur zu stecken. Baut Fabriken, baut Schulen – entweder die Regierungen nehmen das Geld und verteilen es, oder ihr zeigt uns, was ihr damit machen wollt. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich in den Industrienationen so etwas wie ein soziales Gewissen. Das ist weg, und das macht mir Sorgen. Wenn du reich geworden bist, ist dir das gelungen, weil du Teil einer sozialen Einheit bist. Die Leute regen sich nur über die Höhe der Besteuerung auf. Sie reden nicht darüber, was sie der Gesellschaft zurückgeben wollen.

Sie haben der Gesellschaft einen Bioladen zurückgegeben.

Er ist winzig. Er ist keine Konkurrenz für die Supermärkte. Ich besitze ein Haus und konnte den Laden jemandem geben, der einen suchte, aber die Miete nicht hätte bezahlen können. Ich konnte das ermöglichen, das macht mich nicht zu einer Heiligen. Es geht vielmehr darum: Was habe ich, wie kann ich es einem guten Zweck zuführen? Alles was ich habe, wird gebraucht. Ich glaube, das ist der Schlüssel: Man darf nicht auf etwas sitzen und sagen, das ist meins. Man muss es teilen. Kommunismus war so eine gute Idee, es ist traurig, dass daraus die schlimmste Form des Gangsterkapitalismus geworden ist. Was mit Pussy Riot passiert – abscheulich. Aber die russische Mafia kommt wahrscheinlich und tötet mich.

Haben Sie Angst?

Wir müssen alle sterben. Sterben ist nicht schlimm, nicht leben aber ist es. Wenn du dein Leben bewusst lebst und nichts bereust, dann hat Sterben keine Bedeutung. Es hat keinen Sinn, Angst vor dem Unvermeidlichen zu haben.

Das Unvermeidliche – sind Sie doch noch religiös?

Nicht im Sinne einer organisierten hierarchischen Struktur, sondern indem ich eine spirituelle Perspektive einnehme. Vielleicht habe ich sogar Glück gehabt, dass ich als Kind Werte kennengelernt habe, die einforderten, dass man nützlich sein muss für die Gesellschaft, dass man teilen, reden und sich verantwortlich zeigen muss. Und dass man keine Angst haben soll.

Sie sind aus der evangelikalen Gemeinschaft rausgegangen. Man sagt, eine Sekte zu verlassen, sei extrem schwierig, weil Sekten oft wie Geistesgefängnisse funktionieren.

Es ist immer schwierig, etwas zu verlassen, dem du dich zugehörig fühltest. Wenn es leicht ist, bedeutet es, dass du nicht verstanden hast, was du hinter dir lässt. Sei es deine Familie oder eine Institution, der du dich zugehörig fühltest.

Wurden Sie nicht exkommuniziert?

Nein, ich habe das entschieden. Ich wurde vor die Wahl gestellt: entweder meine Freundin oder die Evangelikalen, entweder Liebe oder sie.

Sie sagten einmal: „I never did drug, I did love“ – ich habe nie in Drogen gemacht, sondern in Liebe – was haben Sie damit gemeint?

Indem ich Liebe als Erfahrung wahrgenommen habe, die einen über sich selbst hebt, die die Kontrolle im Kopf ausschaltet. Raus aus dem Kopf, raus aus dem eigenen Körper. Wie ein Weggehen von deinem eigenen Selbst und Verschmelzen mit einem anderen. Es geht darum herauszufinden, was Liebe ist – das zentrale Mysterium des Lebens, was es für jeden Einzelnen und die Gesellschaft bedeutet. Es ist groß. Die Unfähigkeit, sich emotional zu verbinden, macht diese Welt kaputt. Wenn wir uns verbinden, wenden wir uns nicht ab. Ich rede nicht nur über Liebe in einem romantischen, sexuellen Sinn oder bezogen auf die Familie, ich rede über Liebe als Motor des Universums im Dante’schen Sinne, wo Liebe die Sonne bewegt und die Sterne. Freud sagt auch: Wir lieben oder werden krank. So einfach. Wir müssen fähig sein zu lieben.

Sie wurden einmal krank, wollten sich umbringen. Warum – weil keine Liebe da war?

Das ist zu einfach. Ein Zusammenbruch hat oft nicht nur eine Ursache. Es gibt einen Auslöser – meine Freundin hatte mich verlassen –, aber der Zusammenbruch an sich hat mehr Gründe. Die muss man finden. Deshalb bin ich auch gegen Psychopharmaka, es sei denn, die Person ist wirklich verrückt. Denn mit Psychopharmaka verlierst du die Möglichkeit, Ursachenforschung zu betreiben. Die Message ist dann doch auch: Ah, du leidest, ah, das machen wir weg.

Aber Ihr Zusammenbruch brachte Sie in Todesnähe.

Ja, und es hatte was damit zu tun, dass ich verlassen wurde. Das war der Auslöser. Ich hatte einige Beziehungen, die zerbrachen, und bin damit zurechtgekommen. Die eine Trennung aber, mit der du nicht zurechtkommst, die führt dich an die Sachen heran, die unverarbeitet sind.

In Ihrer Situation war es der Verlust der leiblichen Mutter.

Und all diese Fragen danach, wo ich hingehöre. Wenn du erfolgreich bist und wohlhabend, kannst du das lange kompensieren, und wenn du kreativ bist und temperamentvoll, dann kann das den Schmerz lange zudecken. In dem Augenblick, in dem ich von zu Hause auszog, bin ich so schnell gerannt, dass das Feuer mich nicht einholen konnte. Bis zu jener Trennung. Ich war eine gute Läuferin. Und plötzlich bin ich in diese Mauer hineingerannt. Ich hab die Mauer noch nicht mal gesehen. Aber da hat die Heilung angefangen.

Wovor sind Sie denn weggelaufen?

Wenn man das wüsste, würde man nicht weglaufen. Die Komplexität des Leben ist so, dass man schmerzhafte Erfahrungen vermeiden will. Wenn Leute ein Trauma erlebt haben, verändert sie das, und sie werden versuchen, das zu vergessen. Aber dann passiert etwas und alles bricht wieder auf. Und es ist unklar, ob man das überlebt. C. G. Jung sagt, wer ein Trauma erlebt hat und vermeiden kann, es wieder aufkommen zu lassen, soll versuchen, es zu vermeiden. Aber wenn es sich nicht vermeiden lässt, wenn die Tür auf ist, dann kannst du nicht mehr ausweichen. Und es kann sein, dass du da viel starrer wieder rauskommst, ängstlicher. Man muss auch Glück haben, damit man gut durchkommt.

Hatten Sie Glück?

Ja. Auch weil ich Susie traf, meine neue Liebe.

Hat die Krise, durch die Sie gegangen sind, Ihre Antwort, wer Sie sind, verändert?

Nein. Ich war immer gut darin, mich selbst neu zu erfinden. Das war nicht das Problem. Es ist eher so eine Art Gnade, die ich erreicht habe. Die Fähigkeit zu lieben und Liebe anzunehmen, ist größer geworden dadurch. Wenn ich Susie sehe, dann sehe ich sie wirklich, dann erkenne ich sie in ihrem Sein. Früher habe ich um mich gekämpft. Jetzt kann ich rausgucken, sehe, dass die Welt in Unordnung ist, kann mir sagen, du hast vielleicht noch dreißig Jahre, kämpfe für die Welt.

Waltraud Schwab ist sonntaz- Redakteurin