Vorübergehend zu Hause

HAUSBESUCH Als die Flucht vorbei war, trafen sie sich am Hamburger Hauptbahnhof: Rahel Kidane und Daniel Measho aus Äthiopien leben nun mit ihrer Tochter in der „Wohnunterkunft Pavillondorf“, einem Flüchtlingsheim

VON FRIEDERIKE GRÄFF
(TEXT) UND MIGUEL FERRAZ (FOTOS)

Hamburg-Sülldorf, ein Vorort von Hamburg, in dem man plötzlich auf dem Land ist, mit Bauernhöfen und Weiden. Direkt hinter einer Bahnschranke liegt die Sammelunterkunft für Flüchtlinge, in der Rahel Kidane (19) und Daniel Measho (28) wohnen.

Draußen: „Wohnunterkunft Pavillondorf“ heißen die 14 Pavillons. 324 Plätze gibt es dort in Doppel- und Einzelzimmern, und mit etwas Abstand kann man die gelben Holzhäuser mit den weißen Fensterrahmen tatsächlich für eine skandinavische Feriensiedlung halten, wie es auf der Internetseite heißt.

Drin: Im Innern verfliegt der Ferieneindruck. Ein langer, eher dunkler Flur. Das Zimmer von Rahel und Daniel ist vielleicht 15 Quadratmeter groß, es ist sehr ordentlich; schwer zu glauben, dass dort zwei Erwachsene und ein Kleinkind leben. Rechts ein Bett, links ein Kinderbett, ein großer Schrank, zwei kleine Anrichten, auf einer stehen gerahmte Kinderfotos, die Rahel gemacht hat, und zwei Blumentöpfe, auf der anderen ein Fernseher. Außerdem ein Tisch mit Kaffeemaschine. Neben dem Kinderbett eine Kinderwippe mit einer Gesellschaft von Plüschtieren – die hat Liya in der Einrichtung geschenkt bekommen, in der sie und Rahel allein gelebt haben, bevor Daniel zu ihnen gestoßen ist. Daneben steht ein Computer, Daniel versucht gerade, WLAN zu organisieren, aber das ist teuer, also haben sie derzeit keinen Internetzugang.

Wer macht was? Rahel geht – nach der Babypause – seit einem Jahr wieder zur Handelsschule, um ihren Hauptschulabschluss zu machen. Der Unterricht geht von 8.30 Uhr bis 13 Uhr, ihr liebstes Fach ist EDV, aber es wird nur einmal pro Woche unterrichtet. Das Lernen macht ihr Spaß, danach möchte sie eine Ausbildung machen – was für eine, ist noch nicht klar, sie ist nicht festgelegt. Daniels Asylantrag ist noch nicht bewilligt, deshalb darf er keine Ausbildung machen. „Ich zähle die Stunden“, sagt er. Liya ist vormittags im Kindergarten. Auf der Anrichte liegt ein deutsch-amharisch-englisches Wörterbuch, Daniel versucht sich selbst Deutsch beizubringen. Einmal pro Woche gibt es in Sülldorf eine halbe Stunde Deutschunterricht, den er besucht. Kontakt zu den anderen Bewohnern des Heims haben sie nicht. „Die Kulturen sind sehr unterschiedlich“, sagt Daniel. In der Schule bleibt es für Rahel beim bloßen Hallo-Sagen. „Es ist schwer, die anderen kennenzulernen“, sagt sie. Es gibt dort aber auch nur eine andere Frau, die bereits ein Kind hat.

Wer denkt was? Für Rahel steht als Nächstes an, ihren äthiopischen Pass zu beantragen und die Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Das ist eine Herausforderung, weil die äthiopische Botschaft in Berlin eine Geburtsurkunde aus Addis Abeba haben will. Rahel und Daniel werden auf gut Glück nach Berlin fahren und sehen, was sie ausrichten können. „Schritt für Schritt“, sagen sie. Daniel hofft, dass sein Asylantrag bewilligt wird. Fluchtpunkt, eine kirchliche Hilfsstelle für Flüchtlinge in Hamburg, hat ihm für sein Verfahren eine Anwältin vermittelt, sie haben Rahel durch den Behörden-, Ämter- und Gerichtsdschungel begleitet. Als Waise und alleinstehende junge Mutter, die durch die Fluchterfahrung schwer belastet ist, hat sie schließlich eine Aufenthaltserlaubnis bekommen.

Rahel Kidane: Rahel hat als 16-jährige Waise Äthiopien verlassen. Sie war damals Schülerin. Deutschland hat sie allein – und schwanger – erreicht. Ihre Tochter Liya hat Rahel allein in einem Hamburger Krankenhaus zur Welt gebracht. Daniel hat seine Tochter das erste Mal als neun Monate alten Säugling gesehen, als Rahel ihn am Bahnhof abgeholt hat.

Daniel Measho: Daniel ist wie Rahel als Teil der eritreischen Minderheit in Äthiopien aufgewachsen. Als der Krieg zwischen Eritrea und Äthiopien ausbrach, wurde sein Vater nach Eritrea deportiert. Die Familie folgte ihm vier Jahre später. Er hat einen Highschool-Abschluss und würde beruflich gern etwas mit Mechanik machen. Daniel vermisst seine Geschwister; sein Vater und seine Stiefmutter leben nicht mehr.

Das erste Date: Rahel findet die Frage zu privat, sie sagt das freundlich, aber bestimmt. Die beiden kannten sich bereits als Kinder in Äthiopien. Sie haben sich zufällig in Libyen wiedergetroffen, wo Rahel Arbeit suchte und Daniel Zuflucht vor dem eritreischen Militärdienst. Sie verloren sich aus den Augen, als Rahel nach Europa floh. Beide sprechen nur sparsam über die Schwierigkeiten ihrer Vergangenheit. „Wir weinten im Boot“, sagt Daniel über die mehrtägige Flucht übers offene Meer. In Dänemark sagte ihm ein Mann, den er aus Libyen kannte, dass Rahel in Hamburg sei. So machte sich Daniel auf den Weg dorthin, in der äthiopischen Gemeinde fragte er nach ihr – und bekam tatsächlich ihre Nummer. Beim ersten Anruf ging niemand ans Telefon. Beim zweiten war sie direkt am Apparat.

Heiraten? Ja, sie dächten darüber nach, sagt Daniel. „Schließlich haben wir ein Kind zusammen.“

Der Alltag: Manchmal gehen Rahel und Daniel nachmittags mit Liya spazieren, durch die Wälder rund um Sülldorf. Manchmal nehmen sie auch den Bus und fahren zum großen Elbe-Einkaufszentrum und gucken sich dort um. Auf der Anrichte liegen eine Bibel und Marienbilder. Alle drei tragen ein Holzkreuz um den Hals, sie sind orthodoxe Christen. Sie beten, aber viel sei darüber nicht zu sagen, meint Daniel; wer sich damit hervortue, sei wie der Pharisäer in der Bibel. Rahel hat Liya noch vor Daniels Ankunft in Deutschland taufen lassen.

Wie finden Sie Merkel? Es ist eine gute Sache, dass diese Regierung uns hier sein lässt, sagt Daniel. Zumindest können wir all das hier haben, sagt er und „all das“ ist diese vorläufige Bleibe in Sülldorf. „Zuerst ist man froh, überhaupt in Europa zu sein“, sagt er, „dann beginnt die Last mit den Papieren.“

Wann sind Sie glücklich? Rahel: „Als ich meine Tochter zum ersten Mal gesehen habe“. Daniel: „Als ich die beiden, meine Frau und meine Tochter, am Bahnhof getroffen habe.“

Nächstes Mal treffen wir Familie Kalteis in Nittendorf. Interesse? Mailen Sie an hausbesuch@taz.de