„Ich war damals zwölf“

Arnold Mosshammer hat die Kesselschlacht von Halbe im April 1945 überlebt. Die Ereignisse von damals haben den heute 73-Jährigen zum überzeugten und aktiven Antifaschisten werden lassen

taz: Herr Mosshammer, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sich heute vor dem Soldatenfriedhof den Nazis in den Weg stellen werden?

Arnold Mosshammer: Ich werde empört und erschüttert sein, dass die Rechtsextremisten ausgerechnet an dem Ort marschieren dürfen, an dem die furchtbare Kesselschlacht stattfand. Wer die grauenvollen Tage Ende April 1945 wie ich erlebt hat, wird das Elend nie vergessen. Ich war damals zwölf. Zusammen mit meiner Mutter und meiner Großmutter saßen wir vier Tage und Nächte in einem Keller. Über uns hörten wir den Gefechtslärm, und immer wieder wurde der Keller von den explodierenden Granaten erschüttert. Aber das ist noch nicht alles. Denn was danach kam, hat sich mir noch viel intensiver eingeprägt.

Was war da?

Als wir aus dem Keller kamen, trauten wir unseren Augen nicht. Es war unfassbar, was die Schlacht angerichtet hatte. Alles war übersät mit Leichen. Sie lagen zum Teil übereinander. Auch viele Flüchtlinge waren darunter. Überall lagen zerfetzte Pferdekadaver, und es stank nach Qualm. Wir Überlebenden mussten in den nächsten Monaten die Gefallenen beisetzen. Bei dieser Arbeit mussten wir das Grauen noch einmal erleben.

Hatten Sie nicht den Wunsch, den Ort des Grauens so schnell wie möglich zu verlassen?

Das war unmöglich. Wir wussten auch gar nicht, wohin. Zudem wurden wir zunächst zum Beisetzen der Toten verpflichtet. Alles musste aus hygienischen Gründen sehr schnell gehen. Es war Mai und schon sehr warm. Die Leichen verwesten rasch, und es drohte eine Volksseuche. Wenn ich heute auf den Friedhof gehe, werden diese Erinnerungen wieder wach.

Hätten Sie je erwartet, dass die letzte Schlacht ausgerechnet über Ihren Köpfen stattfinden würde?

Nein. Wir waren 1943 nach Halbe gezogen, um den Bombenangriffen in Berlin zu entkommen. Zunächst fing es damit an, dass sehr viele Flüchtlinge aus den bereits eroberten Ostgebieten in Massen kamen und unter anderem in Halbe Zuflucht suchten. Das war Anfang 1945. In den kommenden Wochen wurden überall Panzersperren aufgestellt. Irgendwann konnten wir den Gefechtslärm immer stärker hören. Aber wir ahnten nicht, wie furchtbar dieser Krieg in seinen letzten Zügen noch sein würde. Als die Front dann immer näher rückte, waren es zunächst die sowjetischen Fronttiefflieger, die die Truppen und Eisenbahnschienen beschossen.

An eine Flucht war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken?

Nein. Es ging uns nur noch darum, einen Schutzraum zu finden. Wir lebten zu der Zeit nur in einem Behelfsheim. Laienhaft gruben wir uns ein Erdloch, das natürlich keinen ausreichenden Schutz bot. Schließlich ergab sich die Möglichkeit, in einem sicheren Keller einer Fabrik unterzukommen. Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, wie nachmittags um vier der letzte Personenzug aus Berlin durch Halbe fuhr. Danach sprengte die Wehrmacht die Gleise. Kurz darauf begannen die Kämpfe um Halbe herum auch schon.

Wie haben Sie die vier Tage im Keller erlebt?

Wir bekamen mit, dass die Sowjetarmee mehrmals Ortsteile einnahm und wieder zurückgeschlagen wurde. Es gab aber auch kurze Kampfpausen, die Einzelne von uns nutzten, um am nahe gelegenen See frisches Wasser zu holen. Das Problem war nur, dass im See mehrere Granaten eingeschlagen hatten und damit überall verweste Fische herumschwammen. Eigentlich war das Wasser ungenießbar. Bei Hunger und Durst achteten wir aber nicht darauf.

Sie und Ihre Familie haben überlebt. Was kam danach?

Die Nachkriegszeit war anfangs sehr schwierig. Wir Zugezogene aus der Stadt hatten kaum Möglichkeiten der Selbstversorgung. Ich weiß noch, dass wir zwei Hühnerküken bekamen. Das eine ging gleich ein, das andere holte sich der Habicht. Bei uns gab es „Knäckebrot“, das aus Kartoffelschalen gebacken war. Nachdem sich das Leben etwas normalisiert hatte, war meine Mutter im Gemeindebüro in Halbe tätig und zuständig für die Registrierung der gefallenen Soldaten.

Ab wann haben Sie sich wieder in die Wälder getraut?

Das musste sehr schnell gehen, denn wir mussten ja die vielen gefallenen Soldaten begraben. In den ersten Jahren mussten wir Spezialkommandos dabei helfen, die schwere Kriegstechnik zu räumen. Das war eine gefährliche und sehr anstrengende Arbeit, weil es zu diesem Zeitpunkt die großen Räumgeräte noch nicht gab. Wir Jugendliche fanden heraus, wie man aus den großen Artilleriegranaten die Ladung herausnehmen konnte. Wenn man sie anzündete, ergab das ein schönes Feuerwerk. Das war natürlich sehr gefährlich. Einige Schulkameraden wurden dabei verletzt und sind ums Leben gekommen. Es war furchtbar. Der Krieg forderte auch nach dem Ende der Kampfhandlungen noch Opfer.

Wie lange hat es Sie noch in Halbe gehalten?

1949 ging ich zur Oberschule. Wegen der schlechten Fahrverbindungen besuchte ich ein Internat in Treblin. Später ging ich zur Nationalen Volksarmee.

Sie sind zur NVA gegangen?

Wegen der furchtbaren Kriegserlebnisse wollte ich alles tun, um den Frieden zu erhalten. Wir waren überzeugt davon, dass es nur dann zu keinem weiteren Krieg kommt, wenn den Kriegstreibern etwas entgegengesetzt wird. Damit hatten wir ja auch Recht behalten. Das relative Gleichgewicht führte dazu, dass es zumindest zwischen den Militärblöcken keinen Krieg gab.

Es heißt immer, in der DDR hat der Staat den Antifaschismus gepredigt. Aufarbeitung hat dennoch kaum stattgefunden. Wie war der Umgang in Halbe?

Natürlich wurde der Antifaschismus staatlich gefördert. Aber immerhin noch besser als das, womit wir uns heute beschäftigen müssen. Wenn mir nach 1945 jemand erzählt hätte, dass an dieser Stelle irgendwann wieder die Nazis marschieren, hätte ich das nicht geglaubt. Ich war erschüttert, was in der BRD möglich ist. Erst hatte ich gedacht: Das muss man doch verbieten. Inzwischen ist mir klar, dass die Versammlungsfreiheit nicht angetastet werden darf. Aber ich bin nach wie vor der Meinung: Die Justiz muss einen Weg finden, dass zumindest dieser symbolträchtige Ort nicht von Nazis für Fremdenfeindlichkeit und Rassismus instrumentalisiert wird.

Glauben Sie, ein Verbot würde etwas bringen?

Es würde erst mal heißen, dass sie hier überhaupt nicht marschieren dürfen. Das allein reicht natürlich nicht. Auf der anderen Seite muss natürlich aktiv Aufklärungsarbeit betrieben werden: in Schulen, im Elternhaus, in Denkwerkstätten. Ich finde furchtbar, dass in letzter Zeit wieder so unkritische Berichte über Hitler und andere Nazigrößen gezeigt werden, in denen sogar ehemalige SS-Leute zu Wort kommen. Die Sender sollten verantwortlicher mit dem Thema umgehen und mehr kritischen Stimmen das Wort erteilen.

Halbe ist erst seit einigen Jahren wieder ins Visier der Neonazis gekommen. Wie reagieren Ihre Nachbarn darauf?

Es gibt noch viele Bürger, die sagen: Lasst sie doch marschieren. Ich finde diese Haltung falsch. Inzwischen kommen sie ja aus dem ganzen Bundesgebiet. Wir dürfen nicht zulassen, dass Halbe zum zentralen Wallfahrtsort von Rechtsextremisten wird.

Die Nazis haben Aufmärsche für die kommenden 20 Jahre angemeldet. Wie lange werden Sie noch dagegen angehen?

Vor ein paar Jahren hat Halbe kaum jemanden interessiert. Inzwischen bekommen wir sogar Unterstützung von Wolfgang Thierse und anderen prominenten Bundes- und Landespolitikern. Nichtsdestrotz hoffe ich, dass es Politik und Justiz schnell gelingt, den Neonazis einen Riegel vorzuschieben. So lange werde ich weiter im Aktionsbündnis gegen Naziaufmärsche und Heldengedenken mitwirken.

INTERVIEW: FELIX LEE