Wer bin ich und was brauche ich

PERFORMANCE Faszinierendes Warenwunderland: Die Kompanie MS Schrittmacher spielt „Alice im Wunderland“ im Forum Steglitz

Wer mit Alice auf die Reise geht, sieht das Wunderwarenland mit anderen Augen

Von der Umstrukturierung jammert der Abteilungsleiter zwischen kaputten Schaufensterpuppen und alter Weihnachtsdekoration. Alice hält er für die Geschäftsvertretung. Sie ist zusammen mit dem Publikum hinabgestiegen in den Keller des Einkaufscenters Forum Steglitz.

Die Geschichte von „Alice im Wunderland“ hat alles, sie in die wirkliche Welt zu übertragen. Mit seiner Kompanie MS Schrittmacher bringt Martin Stiefermann die 1865 von Lewis Carroll veröffentlichte Kindergeschichte in Berliner Warenhäuser. „Die Fantasiewelt von Carroll hat mich nie interessiert, weil sie nicht erfahrbar ist,“ sagt Stiefermann. Er will die Dinge in das Hier und Heute holen. Und so performte MS Schrittmacher im vergangenen Jahr im Kaufhaus am Hermannplatz. Jetzt wird das Shoppingcenter in Steglitz zum Wunderland. Dort stellen sich grundsätzliche Fragen: Wer bin ich, was will ich sein und vor allem was brauche ich?

In der Version von Hartmut Schrewe ist Alice eine gestandene Frau. Sie ist auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch und will eigentlich nur eine Strumpfhose kaufen. Am Ende bleibt sie eineinhalb Stunden im Shopping Center. „Wer kennt das nicht“, sagt Regisseur Stiefermann. Er gehe sehr gern einkaufen und sei ein Schnäppchenjäger, der sich erst mit 50 Prozent Rabatt zufrieden gebe, erzählt er. Antje Rose spielt die von verführerischen Taschen, Waschmaschinen und Handstaubsaugern abgelenkte Hausfrau, die mit über 40 aus jeder relevanten Werbegruppe herausfällt. „Meine Alice ist gierig, eine gestresste Hausfrau, die aber ihr Ziel aus den Augen verliert,“ sagt Rose. Alice ist verwirrt, heute hat sie schon so viele verschiedene Größen getragen. „Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man immer jemand anderes sein soll,“ erklärt sie der Modedirektrice.

Alle Figuren aus Carrolls Geschichte finden ihren Platz im Kaufhaus. Die Raupe berät in Modefragen, die Königin herrscht im Sportgeschäft. Dort balancieren ihre Verkäuferinnen Kleidung auf den Köpfen.

Alice stellt fest, dass es kaum Regeln zu geben scheint in diesem Wunderland. Man stolpert mit ihr mit, quer durch das Wunderland Warenkaufhaus, immer dem Hasen hinterher. Im Modeladen wechselt dieser ins Leopardenmuster, das liegt im Trend. Oben im Küchengeschäft singt der verrückte Vertreter eine Hymne auf „die“ Trend, seine Geliebte, seine Hure, die alles, was sie anfasst, in Gold verwandelt und zärtlich seine Wange streichelt.

Center-Manager Carsten Paul gefiel die Idee der MS Schrittmacher. Durch das Stück erhofft er sich, eine andere Klientel mit seinem Center in Berührung zu bringen. Das Forum Steglitz ist 43 Jahre alt und gehört mit dem Europa Center am Kurfürstendamm zu den ersten Einkaufszentren in Deutschland nach dem „Shop-in-Shop“-System. In den Läden stieß man nicht auf Ablehnung. „Alle, die wir gefragt haben, haben mitgemacht,“ sagt Paul.

Gleichzeitig liefert das Center der Performance unfreiwillige Statisten. Solche Situationen könne man im Theater gar nicht inszenieren, freut sich Martin Stiefermann. Mit dem erhobenen Zeigefinger Konsumkritik üben will er nicht. Vielmehr interessiert ihn das Prinzip der Verführung durch Konsum und Werbung. „Man nimmt Werbung nicht immer oder nur unbewusst wahr, aber es gibt sie überall, in Farben und Outfits“, sagt Stiefermann. Sie verspreche einem an jeder Ecke, wie man seriöser, hipper und vertrauenswürdiger erscheinen kann.

Wer sich mit Alice auf die Reise in Steglitz begibt, sieht das Wunderwarenland mit anderen Augen und entdeckt bunt aneinandergereihte Eiscremefarben, Absatzgrößen, die einen wachsen und schrumpfen lassen, oder aufklebbare Fingernägel in allen Mustern und Farben.

MAREEN LEBEDUR

■ 6.–10. August, jew. 15 und 18 Uhr im Forum Steglitz, Schloßstr. 1