Im Schatten alter Bäume sitzen die Leute

WRANGELBRUNNEN 1902 wurde der Wrangelbrunnen nach Kreuzberg verdrängt. Heute bildet er das Zentrum einer Oase der Ruhe mitten in der Stadt. Hunde und Kinder lieben den Brunnen, die Erwachsenen genießen den Park

Manche warten, dass die Zeit vergeht. Es passiert kaum etwas, und das ist angenehm

VON DETLEF KUHLBRODT

Viele Jahre hatte ich Probleme mit der Hitze. Wenn es heiß war, schloss ich die Fenster, versuchte vergeblich zu arbeiten, rauchte zu viel und machte alles falsch. In diesem Jahr ist es anders. Das liegt auch am Wrangelbrunnen, den ich vor zwei Wochen eher zufällig für mich entdeckte. Achtlos war ich mehr als zwanzig Jahre immer nur an der kleinen Parkanlage vorbeigefahren, die an der Ecke von Urbanstraße und Grimmstraße liegt; nie war es mir eingefallen, sie auch zu benutzen. Bis ich vor zwei Wochen eher zufällig hier gelandet bin. Seitdem bin ich fast jeden Nachmittag hier.

Eingeweiht und in Betrieb genommen wurde der Wrangelbrunnen ganz woanders. Das geschah am 22. März 1877 – es war Donnerstag, und Kaiser Wilhelm I. hatte Geburtstag – am Kemperplatz, gleich bei der Philharmonie. Zwischen 1877 und 1902 stand der von Hugo Hagen „in klassizistischer Formensprache errichtete figurenreiche Zwei-Schalen-Brunnen“, so heißt es in einer Mitteilung des Senats, dort, am Rande des Tiergartens. Dann wurde der Wrangelbrunnen vom monumentalen Rolandbrunnen, der von da an Chef am Kemperplatz war, nach Kreuzberg verdrängt. Seitdem befindet er sich in dieser leicht angestaubt wirkenden Parkanlage, die fast bis zum Ufer reicht.

Namenspatron des Brunnens ist der preußische Feldmarschall Friedrich von Wrangel. Auf der unteren Ebene des Brunnens sind Personifikationen von Preußens größten Flüssen – Weichsel, Rhein, Oder, Elbe – angeordnet. „Vater Rhein“ schaut Richtung Urbanstraße. Über den Flüssen stehen vier Putten, die Ackerbau, Wehrkraft, Handel und die Künste symbolisieren. Vor allem Hunde und Kinder lieben den Brunnen; nur manchmal setzen sich Erwachsene – meist junge Pärchen aus Südeuropa – ein paar Minuten auf den Brunnenrand.

Leider gibt es nur vier Parkbänke gleich am Brunnen; zwei schauen Richtung Westen, zwei Richtung Osten. Im nachmittäglichen Schatten alter Bäume sitzen die Leute. Manche unterhalten sich, manche trinken Bier nach der Arbeit, manche lesen, manche sitzen nur unbewegt in der Hitze da und warten darauf, dass die Zeit vergeht. Es passiert kaum etwas, und das ist angenehm.

Manchmal gehen müde Hunde im Brunnen spazieren. Einmal hatte eine junge Mutter sich dem Brunnen zugewendet, ohne die Wegfahrsperre ihres Kinderwagens einzustellen, und der Kinderwagen war über den zur Straße hin abschüssigen Bürgersteig ganz langsam Richtung Parkstreifen gerollt, bis er von einer jungen türkischen Mutter angehalten werden konnte.

So zu sitzen ist beruhigend und gar nicht so einfach, nichts zu tun; was aber auch gar nicht stimmt: ich les ja die ganze Zeit. Es ist ein wunderbarer Ort zum Lesen. Ich las hier „2666“ von Bolaño und einen Roman von Fernando Vallejo, obgleich die „Zimtläden“ von Bruno Schulz am besten zum heißen August passen. Aber die kannte ich ja schon.

Nur einmal waren alle Bänke besetzt, und ich hatte mich ins Gras hinter dem Brunnen gesetzt, konnte aber nach einer halben Stunde wieder aufrücken. Es war wie im Urlaub oder nach dem Umzug in eine andere Stadt; ich war der Neue im Park. Mir war nicht klar, wer die Stammgäste waren. Um zwanzig vor acht ist es besonders schön, wenn ein paar Sonnenstrahlen durch die Blätter fallen.

Einmal kam ein junger Mann, positionierte sein Smartphone auf einem Fotostativ, machte Bilder oder kleine Filmchen von sich und ging dann wieder. Und einmal am Nachmittag, als G. mich auf der Parkbank besuchte, war es nicht so schön. Vier Filmstudenten scharwenzelten mit ihren Kameras und Mikrofonen herum und verbreiteten schlechte Stimmung. Filmend degradierten sie die Gegend zum Bild, in dem man keine Lust hatte zu sitzen.

Sie gingen zu dem Mann, der auf der Nebenbank saß, und baten ihn, ob er sich nicht vielleicht woandershin setzen könnte, beziehungsweise, wenn er da sitzen bleiben wollte, nicht direkt in die Kamera reinzugucken. Später unterschrieb er einen Zettel, der es den Filmfritzen erlaubte, sein Bild zu verwenden.

Wenn die Kamera in unsere Richtung guckte, schauten wir direkt hinein oder verdrehten die Augen. Dann gingen wir wieder; zum Ufer, zum Südstern, dann in die Bergmannstraße zu Netto. Wo es am Abend auch immer sehr schön ist.