kritik der woche : Plättchen, Prismen und Dendriten
Es war mit Abstand die überwältigendste Performance seit langem, manche behaupten gar: Seit hunderten von Jahren. Und wie ist der Norden darauf eingestellt? Er erweist sich als unvorbereitet. Und als kulturell völlig überfordert. Mit dem Schnee, der weite Norddeutschlands seit einer guten Woche eindeckt, kommt man hierzulande weder praktisch noch intellektuell so recht klar.
Am offensichtlichsten wird das naturgemäß in den Medien: Vom Fernsehen übers Radio bis zu den Zeitungen reicht das Repertoire, wie mit dem winterlichen Niederschlag umzugehen ist, von „weiße Pracht“ bis „Schnee-Chaos“ sowie unheilschwangere Warnungen vor neuen Eiszeiten. Und das sind, wohlgemerkt, auch schon die Maxima der Originalitätskurve. Dazwischen: Schneemassen, 25 Zentimeter Schneehöhe und Schneematsch – das alltagsgraue Einerlei also.
Wohlgemerkt, das ist alles nicht falsch, das ist mit Sicherheit redlich gemeint und in gewisser Hinsicht auch informativ. Aber es ist nicht genug. Es ist dem größtangelegten Spätwintereinbruch seit Beginn der Wetteraufzeichnung einfach nicht angemessen.
Zugegeben, die natürlichen Voraussetzungen sind nicht so günstig, wie in bergigeren Regionen, wo man gewohnt ist tägliche Lawinebulletins zu verfassen. Und zu lesen. Aber weder Johannes Kepler noch René Descartes waren Schweizer – und trotzdem steht Norddeutschland naiv staunend vor der Tatsache, dass es geschneit hat – als würde nicht selbst in Europa seit über 400 Jahren Schneeforschung betrieben, und als hätte diese nicht durchaus Erfolge vorzuweisen. Der Norden aber bleibt blind vor der wundersamen Varianz des Hexagonalen, kann Prismen nicht von kunstvoll zu Dendriten geeisten Wassertropfen unterscheiden und hat von fraktaler Geometrie schon mal gleich keine Ahnung.
Umsonst, ach, vergebens also das Schauspiel, das sich bietet, wenn sich allmählich, ganz langsam, so wie es ihre Art ist – denn der Schnee fällt mit einer Geschwindigkeit, die nur ein Vierzigstel von der des Regens beträgt – jede einzelne Flocke für sich verwandelt: Jene wird, ohne zwischenzeitlich zum Tropfen zu gerinnen, zu Dampf in der trockenen Winterluft, während ihre direkte Nachbarin im Schneehaufen durch die Kälte dieser Sublimation noch stärker vereist, und die unter ihr liegenden zunehmend zusammenpresst, bis sich alle die feinziselierten, in komplexer Selbst-ähnlichkeit erstrahlenden Sterne zu trivialen Plättchen verschoben haben, die länger, aber nicht ewig der Wärme trotzen: Das alles ist ein großer, unendlich trauriger Prozess der Vergänglichkeit der zu jedem sprechen und tiefe Einsichten vermitteln könnte. Und sei es nur die, dass es kalt ist in Deutschland.
benno schirrmeister
Schnee, vom Harz bis Flensburg, täglich von 0-24 Uhr, Eintritt frei. Bis 19. März