berliner szenen Ikone für eine Nacht

Kunstraum Mundhöhle

„Wo gehen wir hin?“ Franzi schliddert schlecht gelaunt die Choriner Straße entlang. Wir wollen in den Wurstmenschen Club, zu einer szenischen Lesung mit bimedialen Montagen. Franzi guckt fragend. „Na, Kunst eben“, sage ich. Sie nickt unglücklich.

Das Café ist schummrig, vor geblümter Tapete eine Leinwand. Ein Dutzend Besucher sitzt auf Stühlen, die nicht zusammenpassen. Man kennt sich. Anna Panek erklärt, dass die Hälfte des Programms leider ausfällt. Also nichts mit bimedial. Stattdessen liest sie Gedichte über das nächtliche Streitgespräch der liegen gelassenen Bücher in einer Bibliothek und die Klage eines Dramas: „Ich bin kein Stück!“ Mit einfachen Worten dekonstruiert sie Gedankengebäude.

Dann spricht Jörg Janzer. Andächtige Stille, begeisterter Applaus. Der 60-Jährige ist die Ikone des Abends. „Ein Kauz“, sagt Franzi. Er müsse uns etwas Wichtiges mitteilen, raunt Janzer verschwörerisch, als er hört, woher wir kommen. Ein brauner Zahn schaut einsam von seinem Oberkiefer herab. Die Barmer Ersatzkasse habe ihm anhand eines Briefwechsels Schizophrenie diagnostiziert. Die Medizinstudentin Franzi legt skeptisch die Stirn in Falten. Janzer war selbst Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, bis er 1977 endgültig ausstieg. Nun hat er sein Leben der Kunst verschrieben.

Zu Hause recherchieren wir, dass der einsame Zahn der Stein des Anstoßes ist. Die Krankenkasse forderte, dass Janzer sich ein Gebiss anfertigen ließe. Er lehnte ab – es wäre eine Vergewaltigung des „Kunstraums Mundhöhle“, eines heiligen Bereichs der Erotik, und verstoße gegen die Menschenrechte. Außerdem fühle er sich alt mit Gebiss. „Nicht schizophren“, sagt Franzi, „nur ein wenig verrückt.“

LEA STREISAND