Herrn Papes Fahrt ins Irrenhaus

Die Wahrheit-Woche der Leichen im Keller: Mein peinlichster Mitesser

Herr Pape kletterte nicht auf Berge. Herr Pape trug Knickerbocker, Rucksack und genagelte Stiefel aus reiner Bequemlichkeit und ging vorwiegend in der flachen Hildesheimer Börde spazieren. Aus dem gleichen Grund transportierte er seine Aktentasche auch nicht wie der Rest der Welt per Hand am dafür vorgesehenen Griff, sondern hatte sie um den Bauch geschnallt. Er wurde uns Jungen als Jugendfreund und in unsere Stadt versetzter Kollege meines Vaters vorgestellt. Er sei ein bisschen seltsam, raunte Mutter und ließ ihren Zeigefinger an der Schläfe rotieren.

Herr Pape selbst führte sich als Naturapostel, Jünger des Anthroposophen Steiner und Radikalvegetarier ein. Wenn er bei uns am Tisch saß – und das tat er nun ziemlich oft –, standen zermürbende Vorträge über Seelenwanderung und das Sein im Geistigen, über Kneippkuren und Eisbäder, wahlweise über Ernährungs- und Stoffwechselfragen auf dem Speiseplan. Die wichtigsten Leitsätze verabreichte Herr Pape gern auch in gereimter Form: „Den Bissen kauen hundertmal, / erspart dem Darm so manche Qual.“

Man kann sich ausrechnen, wie lange es dauerte, bis er eine simple Stulle eingespeichelt hatte. Beliebt machte sich Herr Pape damit nicht. Erschwerend hinzu kam seine Angewohnheit, nach dem Essen ein zerfleddertes Exemplar des roten Mundorgel-Heftchens hervorzukramen: „Beweg dich oder singe laut, / schnell wird die Nahrung abgebaut.“. War ihm eine verdauungsfördernde Komposition ins Auge gefallen, hob er an, dieselbe mit erbarmungswürdig dünnem Stimmchen vorzutragen. Nach einer Weile hielt Herr Pape inne, senkte den Kopf und fixierte meinen Bruder, der über einen kristallklaren Knabensopran verfügte, über den Rand seiner Kassenbrille: „Das kennst du doch bestimmt, mein Kleiner?“ Verzweifelt blickte der Angesprochene auf die Mutter, sie schüttelt resolut den Kopf. Vater indes – durchdrungen von Menschenliebe und der Maxime, Höflichkeit sei eine Gabe der Weisen – sah man gottergeben nicken. Meinem Bruder stiegen Tränen der Wut in die Augen. Denn nun galt es begleitet von Herrn Papes inbrünstigem Gewimmer Stück für Stück den Fundus der Wandervogelbewegung abzusingen.

Es war grausam. Meine Mutter starrte zähneknirschend an die Decke, ich lag krumm vor Lachen halb unter dem Tisch. Was meinen Bruder besonders verbitterte: Herr Pape pflegte das Martyrium nicht etwa mit barer Münze oder hochwertigen Produkten der Süßwarenbranche zu vergelten, sondern überreichte ihm stets natursaure, wahrscheinlich seit Kriegsende in seinen Knickerbockern klebende Zitronendrops.

Wir ertrugen das alles nur, weil Vater auf mildernde Umstände plädierte und die Ehehölle von Herrn Pape in Gestalt eines tyrannisch veranlagten und zu schwerster Hypochondrie neigenden Weibes mit breughelscher Palette ausmalte. Wir selbst wurden einmal Zeugen, wie der kleine Mann sein dickes und sackhässliches Weib im Rollstuhl den Galgenberg hinauf bis vor ein beliebtes Ausflugslokal karrte. Oben angekommen, sprang die eingebildetet Kranke aus dem Gefährt, enterte behände einen Sitz, von wo aus sie nach Stunden und randvoll mit Erdbeertorte zurück in den Rollstuhl gehievt und talwärts bugsieren werden wollte.

Außerdem, erklärte Vater, habe Herr Pape ein Leberleiden und immer Hunger. Kochen konnte die Xanthippe also auch nicht. Na gut, der Mann durfte wiederkommen, wir waren ja keine Unmenschen. Unser Geduldsfaden riss allerdings jäh, als sich herausstellte, dass Herr Papes Vegetarismus recht eigentlich auf dem Diktat seines hypochondrischen Hausdrachens fußte und nur sehr theoretischer Natur war. Entsetzt mussten wir mit ansehen, wie sich die Konditionierung des Zwangsasketen von Mahlzeit zu Mahlzeit in geradezu unheimlichem, man kann auch sagen unverschämtem Tempo lockerte. Schinken, Koteletts, Corned Beef, ganze Speckseiten verschwanden hinter seinen kariösen Palisaden, als gäbe es kein Morgen, von Mutters Gulasch nahm er dreimal nach, von den köstlichen Aufläufen blieben selbst meinen Eltern nur Kinderportionen. Er kleisterte ungeniert halbe Sülzfleischdosen auf sein Brötchen und schlug furchtbare Schneisen in Vaters Wintervorrat an Eichsfelder Mettwürsten. Herr Pape fraß uns die Haare von Kopf.

„Er oder wir“, sagte der Familienrat. Vater warf einen Blick in die geplünderte Speisekammer, schüttelt traurig den Kopf und setzte die Verköstigung aus. Wir haben Herrn Pape schließlich nie wiedergesehen … Dass sein Weib während einer Amsterdam-Reise samt Rollstuhl in einer Gracht versank und Herr Pape, den man unweit des Unglücksorts völlig verwahrlost aufgegriffen hatte, einer Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung nur mithilfe des psychiatrischen Gutachters entging, erfuhren wir zwei Jahre später aus der Zeitung. Uns wurde etwas mulmig. Zu Unrecht. Dem geistig Umnachteten muss Mutterns Halbpension vorgekommen sein wie ein Ausflug ins Paradies.

Kurz nach seiner Einweisung in das Hildesheimer Irrenspital ließ er anfragen, ob wir ihm nicht ab und an ein Stullenpaket zukommen lassen könnten. Klar, konnten wir, und haben wir gemacht, mindestens dreimal die Woche. MICHAEL QUASTHOFF