„Meist sind es alte, verbitterte Männer“

AUSSICHTEN Der Kriminologe Michael Alex hat die Rückfallquote entlassener Sicherungsverwahrter untersucht. Die Ergebnisse sind erfreulich – und werden von der breiten Öffentlichkeit weitgehend ignoriert

■ 65, ist freier Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kriminologie der Ruhr-Uni Bochum. Seine Studie „Nachträgliche Sicherungsverwahrung – ein rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel“ erschien 2013 in zweiter Auflage.

INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF

taz: Herr Alex, im taz-Archiv findet man etwa einmal pro Jahr einen Bericht über einen entlassenen Sicherungsverwahrten, der rückfällig geworden ist. Ist das repräsentativ?

Michael Alex: Wir haben eine Untersuchung gemacht, bei der es um Sicherungsverwahrte ging, die entlassen wurden, obwohl sie noch als gefährlich galten. Darin haben wir 126 Leute erfasst – davon sind zwölf erheblich rückfällig geworden. Das ist eine Quote wie im regulären Strafvollzug.

Und deutlich weniger als von den Gutachtern prognostiziert.

Bei allen Fällen hat zumindest einer der Gutachter angenommen, dass der Sicherungsverwahrte weiterhin hoch gefährlich ist. Zu 80 Prozent war das falsch. So dass man sagen kann: um 15 festzuhalten, die vielleicht gefährlich werden, werden 85 weitere festgehalten, die nicht mehr gefährlich sind.

Ist das eine besonders hohe Irrtums-Quote?

Es ist sehr schwierig, menschliches Verhalten vorherzusagen. Es wird zunehmend suggeriert, es sei eine exakte Wissenschaft, Prognosen zu stellen – aber das ist es nicht. Es gibt ein paar extreme Fälle, bei denen man einen Rückfall relativ sicher vorhersagen kann, und einige, wo man das mit ziemlicher Sicherheit ausschließen kann. Aber bei dem großen Spektrum dazwischen kann man es im Grunde nicht vorhersagen. Da kommen so viele äußere Faktoren dazu: die Entlassungsbedingungen, die Betreuung im Anschluss – all das kann man im Gutachten noch gar nicht feststellen.

Aber erwartet wird dennoch eine 100-prozentige Sicherheit.

Der Druck geht hoch bis zum Bundesverfassungsgericht: Die tun sich schwer, Leute, obwohl sie deren Unterbringung für verfassungswidrig halten, zu entlassen. Sie geben die Fälle zurück an die Untergerichte in der Hoffnung, dass die das Problem lösen. Seitdem Richter in der Bild-Zeitung angeprangert worden sind, ist die Angst groß.

In der allgemeinen Wahrnehmung geht es bei Sicherungsverwahrten fast immer um Sexualstraftäter. Entspricht das der Wirklichkeit?

Früher waren Sexualstraftäter gar nicht so häufig in der Sicherungsverwahrung, da waren dort häufig Diebe und Betrüger. Seit 2009, 2010 sind überwiegend Sexualstraftäter in der Sicherungsverwahrung, von den 100, die jedes Jahr dazukommen, sind 40 Sexualstraftäter, der Rest verteilt sich auf Tötungsdelikte, Raub und Körperverletzung.

Das hat die Öffentlichkeit aber noch nicht wahrgenommen.

Das allgemeine Bild ist, dass die Sexualstraftäter die besonders gefährlichen sind. Und auch nur um die kümmert sich die Gesellschaft. Es kommt ja selten zu einem Aufruhr, wenn ein „Totschläger“ aus der Sicherungsverwahrung entlassen worden ist.

Woran liegt das?

Sexualstraftäter waren immer schon, auch im Knast, die Untersten in der Hierarchie. Und in einer verunsicherten Gesellschaft, wie wir sie seit Ende der 90er-Jahre haben, ist der Sexualstraftäter ein gutes Ventil, Hass und Frust zu entladen. Von den zwölf in unserer Untersuchung, die einschlägig rückfällig wurden, war übrigens keiner älter als 50 Jahre.

Wie alt sind die Entlassenen durchschnittlich?

Wenn die Leute regulär entlassen werden, sind sie in der Regel über 50. Meist haben sie Strafen von mindestens fünf Jahren, dann kommen zehn bis 20 Jahre Sicherungsverwahrung hinzu. Meist sind es alte, verbitterte Männer.

Die eigentlich ein Altersheim bräuchten?

Darauf wird es irgendwann hinauslaufen. Mit der unbefristeten Sicherungsverwahrung werden viele im Gefängnis sterben.

Es gab viel Kritik an der mangelnden Entlassungsvorbereitung. Hat die sich inzwischen verbessert?

Nicht substanziell. In den Anstalten herrscht die Tendenz, die Leute lieber drinnen zu behalten als eine Entlassung vorzubereiten. Man baut darauf, dass die Gerichte sie weiter drin lassen. Tatsache ist, dass seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs um die 100 Menschen aus der Sicherungsverwahrung entlassen worden sind – häufig ohne jede Vorbereitung.

Mit Ihrer Studie verkünden Sie eine gute Nachricht – trotzdem haben Sie kaum positive Resonanz erhalten.

Es wird gesagt: Fünfzehn Prozent sind doch immer noch fünfzehn zu viel. Es ist die Vorstellung, man könne Sicherheit für die Bevölkerung 100-prozentig gewährleisten. Und deshalb nehmen wir lieber in Kauf, 85 Prozent ohne Notwendigkeit drinnen zu lassen als 15 Prozent frei zu lassen. Dabei wird übersehen, dass die meisten Taten nicht von Vorbestraften begangen werden, sondern von Menschen, die bislang nicht aufgefallen sind, gerade im Sexualdeliktebereich.

Gab es bei Sexualstraftätern eine höhere Rückfallquote?

Nein, sie ist eher niedriger.

Auch diese Erkenntnis verbreitet sich nicht.

Nein. Man kann in diesen Fragen mit rationalen Antworten derzeit wenig ausrichten. Die Debatte ist emotional derart aufgeladen, als ob die Sexualstraftäter die größte Gefahr seien. Dabei haben die Sexualmorde an Kindern im Laufe der letzten Jahre kontinuierlich abgenommen, es bewegt sich zwischen zwei und fünf Fällen pro Jahr.

Haben Sie eine Verbindung zwischen Entlassungsvorbereitung und Rückfallquote feststellen können?

Dazu hatten wir zu wenig Daten. Es sind viele ohne Vorbereitung entlassen worden, aber auch viele von denen sind nicht rückfällig geworden.

Daraus könnte man schlussfolgern: Entlassungsvorbereitung ist gar nicht so wichtig.

Doch. Wir haben bei unserer Untersuchung gesehen, dass die ersten Monate nach der Entlassung die riskantesten sind. Insofern spricht viel dafür, dass die Entlassungsvorbereitung das A und O ist und dass Nachsorgeeinrichtungen das Rückfallrisiko deutlich reduzieren können.

Wie gut stehen die Nord-Länder in dieser Frage da?

Die Debatte ist emotional derart aufgeladen, als ob die Sexualstraftäter die größte Gefahr wären. Man kann mit rationalen Antworten wenig ausrichten

Zu Hamburg muss man sagen: Die Aktionen in Jenfeld und Moorburg waren kontraproduktiv, weil dadurch Ängste geschürt wurden. Im Vergleich läuft es in Berlin nahezu reibungslos. Da wird fast nie ein Fall bekannt, wo jemand entlassen wurde und es zu einem Aufstand in der Bevölkerung kam. Die Entlassenen wurden nicht konzentriert, sondern verteilt auf einzelne betreute Wohngemeinschaften.

Hatte man in Hamburg einfach nur Pech, weil die Medien einen entlassenen Sicherungsverwahrten ausfindig machten und ab dann die Politik nur hinterherlief?

Ich denke, dass es da eine politische Mitverantwortung gibt. Hamburg war einmal, was Strafvollzug, Sozialtherapie und Lockerungspraxis anging, ziemlich vorne weg. Dann hat man unter Kusch einen starken Rückzieher gemacht, die eigenständige Sozialtherapie nach Fuhlsbüttel verlegt und die Lockerungen, die wichtig bei der Entlassungsvorbereitung sind, stark zurückgefahren. Davon hat sich Hamburg nicht wieder befreien können.

Auch nicht nach einem schwarz-grünen und nun roten Senat?

Bei der neuen Hamburger Gesetzgebung zur Sicherungsverwahrung ist nur das hineingeschrieben worden, was man unbedingt musste, damit das Bundesverfassungsgericht nicht eingreift. Aber wo der Bundesgesetzgeber sagt: „Lockerungen sind zu gewähren, wenn nicht erhebliche Straftaten zu befürchten sind“, ist in Hamburg das „erhebliche“ gestrichen worden, damit die CDU zustimmt. Jetzt kann man wegen jeder Bagatelle wie der Befürchtung, dass jemand schwarzfährt, die Lockerung versagen.

Nach der Entlassung sind die Sicherungsverwahrten freie Bürger, andererseits gibt es staatlicherseits das Bedürfnis, sie zu kontrollieren. Gibt es dazu inzwischen Antworten?

Im Rahmen der Führungsaufsicht sind die Bedingungen für die Entlassenen inzwischen deutlich verschärft worden. Heute kann man Therapieweisungen geben, bei Verstößen gegen Weisungen kann man drei Jahre ins Gefängnis kommen. Auch bei den Nachsorgeeinrichtungen, an die Entlassene verwiesen werden können, hat sich einiges getan – auch als eine andere Art der Kontrolle als die Dauerüberwachung durch die Polizei. In einigen Bundesländern gibt es inzwischen eine enge Zusammenarbeit von Polizei und Bewährungshelfern.

Ist das produktiv?

Die Polizei gerät da zunehmend in die Rolle des Kontrolleurs mit Bewährungshilfeaufgaben. Das ist fragwürdig, weil beide Rollen nicht mehr sauber zu trennen sind. Die Bewährungshelfer finden das allerdings nicht problematisch und fühlen sich sicherer, wenn sie sich mit der Polizei austauschen können.

Ist es ein gutes Zeichen, dass die Medien sich kaum noch mit dem Thema beschäftigen?

Ja und nein. Eigentlich interessiert das Thema niemanden. Aber das wird sich sofort ändern, sobald etwas Außergewöhnliches passiert. Die Zahlen der Sicherungsverwahrten steigen, pro Jahr kommen um die hundert hinzu.