Kunst-Ufo am Stadtrand gelandet

MARZAHN Sechzehn Künstler wagen ein Experiment: Obwohl der Bezirk nicht eben als Epizentrum der Kreativität gilt, haben Maler und Bildhauer ihre Ateliers an den östlichen Stadtrand verlegt. Entstanden ist dadurch eine kleine, vitale Galerienszene

■ Geschichte: Der Ort Mortzane wird erstmals um 1300 in einer Urkunde erwähnt. Um 1900 lebten 700 Menschen in dem Dorf, das bis heute, wenn auch nostalgisch überformt, erhalten ist. In den Siebzigern wurden die ersten Neubauten errichtet, es entstand die größte Großsiedlung der DDR. Auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung erfolgte 1979 die Gründung des Stadtbezirks. 2001 fusionierte Marzahn mit dem benachbarten Hellersdorf. Der neue Bezirk umfasst die Ortsteile Marzahn, Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Hellersdorf.

■ Bevölkerung: Ende 2012 zählte der Bezirk Marzahn-Hellersdorf 248.786 Einwohner auf einer Fläche von 61,8 Quadratkilometern. Der Ausländeranteil liegt bei 4,6 Prozent. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei 12,2 Prozent.

■ Zuwachs: Der gesamte Bezirk Marzahn-Hellersdorf musste in den neunziger Jahren mit starken Einwohnerverlusten klarkommen. Seit zwei Jahren wächst die Bevölkerung wieder. Zwei Drittel der zugezogenen Einwohner haben einen Migrationshintergrund.

■ Alte und Junge: Seit Anfang der neunziger Jahre altert der Bezirk rapide. Lag das Durchschnittsalter 1991 noch bei 30,5 Jahren, liegt es mittlerweile bei 43,1 Jahren. Zugleich nimmt die Zahl der Kinder und Jugendlichen kontinuierlich zu: Fast 15 Prozent sind unter 18 Jahre alt.

■ Bezahlbare Mieten: Im Vergleich zur Innenstadt ist der Immobilienmarkt in Marzahn-Hellersdorf entspannt. Die Vermieter verlangen laut dem GSW-Wohnmarktreport 2012 bei Neuvermietungen 4,79 Euro pro Quadratmeter kalt. (gs)

VON SUSANNE MESSMER

Als Carola Rümper auf ihre neue Ausstellung „Flagge zeigen“ zu sprechen kommt, leuchten ihre Augen, als sei sie frisch verliebt. Schon vor Wochen hat sie im Umfeld ihres Ateliers auf der Marzahner Promenade Flyer verteilt und Anwohner und Passanten aufgefordert, Orte zu suchen, an denen sich Rümperiens verstecken könnten – wolkenähnliche Erscheinungsformen mit Tentakeln und schwarzer Außenhaut. Diese Wesen erforscht und modelliert Carola Rümper seit vielen Jahren, wegen der Rümperiens war sie bereits in der Wüste Sinai und in Kairo unterwegs. Hier in Marzahn, sagt die Frau mit den lustig wippenden Zöpfen und dem nordischen Akzent, ist sie mit ihnen auf besonders viel Zuspruch gestoßen.

Flaggen im Blumenkasten

Über dreißig Personen meldeten sich wie erhofft mit Fotos bei ihr, die eine Flagge zeigen, welche Rümpers eigens für dieses Projekt entworfen hat. Auf einigen Fotos markiert die Flagge einen Ort oder Gegenstand wie einen Schrotthaufen, der wirklich an einen Rümperien erinnert. Viele Marzahner jedoch steckten die Flagge auch einfach in einen Blumenkasten auf ihrem Balkon. Ein Mann markierte zwei Statuen in den Gärten der Welt, die er gern besucht. Ein anderer zeichnete gleich eine ganze Reihe Stellen an einem Fluss aus, an dem er oft spazieren geht. „Es geht darum, dass sich die Bewohner ihren Bezirk zu eigen machen sollen, also auch um Einflussnahme meinerseits“, sagt Carola Rümper mit einem breiten Grinsen. Sie brennt für die Leute, mit denen sie hier in Kontakt gekommen ist. „Herzergreifend nett“ findet sie sie, weitab von allen Klischees, die man in Bezug auf Marzahn im Kopf haben könnte.

Carola Rümper ist eine von sechzehn Künstlern in sieben Ateliers, die sich auf ein waghalsiges Experiment eingelassen haben. Vor drei Jahren suchte der Berufsverband Bildender Künstler Leute, die Lust hatten, in einem für sie völlig neuen Szenario zu arbeiten: an der Marzahner Promenade.

Diese Fußgängerzone und Ladenstraße wurde Anfang der Siebziger als Zentrum von Marzahn geplant. Heute gibt es dort Nagel- und Sonnenstudios, auch große Mosaikwandbilder im Stil des sozialistischen Realismus. Ein vietnamesisches Restaurant lockt mit Lilien in Zellophan auf den Furniertischen, viele Geschäfte stehen leer. Nur wenige Passanten sind an diesem Nachmittag unterwegs, die meisten sind jenseits der sechzig.

Spätestens als 2005 am Marzahner Tor, dem Eingang der Promenade, mit dem Eastgate inklusive Food-Court und Event-Plaza das größte Shoppingcenter in den östlichen Berliner Bezirken öffnete, geriet die Promenade in eine Krise. So kam es, dass 2010 die Wohnungsbaugesellschaft Degewo, die sich um die Aufwertung des schlechten Images von Marzahn bemüht, beschloss, einige der leer stehenden Läden Künstlern zur Zwischennutzung zu überlassen – und zwar zum Preis der Nebenkosten von oft nur einem Euro pro Quadratmeter.

„Schon in der ersten Woche gab es an die vierzig Bewerber“, erzählt Karin Scheel vom Fachbereich Kultur im Bezirksamt Marzahn. Scheel betreibt mit der kommunalen Galerie M an der Marzahner Promenade eine Art Epizentrum der kleinen, aber vitalen Künstlerszene vor Ort und hat die Ateliers in Kooperation mit der Degewo vergeben. Sie achtet darauf, dass sich die Künstler vernetzen, dass es jährlich einen Atelierrundgang und eine Sammelausstellung in ihrer Galerie gibt. Die meisten, die hier arbeiten, beschäftigen sich früher oder später fast zwangsläufig mit dem Ort, an dem sie wie eine Art Ufo gelandet sind, hofft Karin Scheel. „Es ist schön, wenn sie sich festbeißen“, sagt sie. „Aber das ist keine Bedingung. Von Schock bis Liebe ist alles dabei.“

Wenn man auch bei Carola Rümper von Liebe zu ihrem Umfeld sprechen kann, ist es bei einigen anderen Künstlern doch eine kompliziertere Gefühlslage. In einem 300 Quadratmeter großen Atelier ebenfalls an der Marzahner Promenade arbeiten etwa Janet Wielgoß und Daniel Wolter. Janet Wielgoß ist Malerin und hat das Atelier vor allem deshalb gemietet, weil es kaum mehr vergleichbar günstige Arbeitsräume für Künstler in der Stadt gibt.

„Malerei ist eine eher stille Angelegenheit“, sagt sie und berichtet davon, dass es manchmal nicht so leicht fällt, mitten in einem Schaufenster zu arbeiten, wenn Passanten glotzen. „Die Degewo hat uns allerdings als einzige Auflage erteilt, dass man das Atelier von außen als solches erkennen muss“, erklärt Daniel Wolter. „Darum durften wir das Fenster nicht verhängen.“

Auch Wolter sagt zunächst, dass er nicht allzu viel mit dem Umfeld verbindet, in das er täglich von Friedrichshain reist wie ein Büroangestellter und sich darüber freut, dass hier so wenig von der Arbeit ablenkt. Doch wer seine abenteuerlich zusammengezimmerten und windschiefen Regale aus gefundenen Materialien, die trotzdem in sich stabil und funktionsfähig sind, genauer anschaut, dem tun sich durchaus Verbindungen auf. Denn Daniel Wolter, ein blasser, schmaler Mann in Jeans und Shirt, hat es nicht zufällig mit den informellen Architekturen, dem wilden Wuchern, wie man es etwa an den Rändern brasilianischer Großstädte findet. Wolter ist ein Kind des Betons: Er ist in Hellersdorf großgeworden.

Dazu passt, dass er sich letztes Jahr mit einem kleinen Projekt in den öffentlichen Raum Marzahns vorgetastet hat. Er hat Steine herausgehackt aus dem Waschbeton der Plattenbauten, die ihn umgeben: Quarz, Granit, Feuerstein. Anschließend hat er die Steine mit Hilfe einer Geologin analysiert und ein dünnes, mintgrünes „Feldbuch Marzahner Promenaden Geologie“ drucken lassen, das er kostenlos an interessierte Passanten verteilt. Die Auseinandersetzung mit Marzahn, der größten Großsiedlung der DDR – sie ist unbedingt vorhanden bei Daniel Wolter. Nur besteht sie eher aus einem vorsichtigen Tasten.

Ein Tasten, über das sich Karin Scheel von der Galerie M ebenso freut wie über jede künstlerische Konfrontation mit einem Bezirk, der einmal mit großen Ambitionen antrat, mit dem aber heute viele nur noch Cindy aus Marzahn verbinden. „Marzahn ist so viel mehr als dieses Klischee“, sagt Scheel – trotz aller Konflikte, die es gibt und die kürzlich wieder in der Auseinandersetzung um das Flüchtlingsheim im Nachbarkiez Hellersdorf an die Oberfläche gespült wurden.

Eine neue Szene

Ob sich durch die Künstler etwas ändern wird in Marzahn? Ob hier eine neue Szene entsteht? Scheel weiß es nicht. Sie weiß nur, dass sie sehr gespannt ist auf die neue Ausstellung in der Galerie M, die an diesem Sonntag eröffnet.

Mit Maurice de Martin hat Scheel einen transdisziplinären Aktionskünstler und experimentellen Musiker eingeladen, der sich vorbehaltlos freundlich auf Marzahn einlassen will. Er stellt sich als eine Art Dienstleister für alles zur Verfügung. Diese Dienstleistungen werden dokumentiert – ebenso die frei wählbaren Geschenke, die de Martin entgegennehmen wird. Bislang haben sich Anwohner und Institutionen gemeldet, die um Entrümpelung oder Kaffeeausgabe am Morgen baten. Die schönste Bitte bislang, erzählt Scheel, kam von einer jungen Frau. Sie will ihrem Freund einen Antrag machen und hat Maurice de Martin um ein Ständchen gebeten.

■ Vernissage „… Maurice ist da!“, So., 11. 8., 18 Uhr, Galerie M, Marzahner Promenade 46 ■ Vernissage „Flagge zeigen“, So., 25. 8., 15 bis 19 Uhr, Atelier MP 43, Marzahner Promenade 43