LESERINNENBRIEFE
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Unsortiertes Kuddelmuddel

■ betr.: „Die digitale Kolonie“, taz vom 7. 8. 13

Der Autor, Johannes Thumfart, schreibt manches Richtige, um seine Hauptthese von Europa als „digitaler Kolonie“ zu unterstreichen. Leider wird vieles unsortiert zu einem einzigen Kuddelmuddel zusammengeworfen.

Es wird beispielsweise richtig die europäische Unfähigkeit beklagt, den Rechtsstaat gegen digitale Überwachung durch die USA in Stellung zu bringen. Was aber hat das zu tun mit der Unfähigkeit Europas oder gar Deutschlands, „seine weltpolitische Rolle“ (?) oder die „Führung des Landes“ (?) wahrzunehmen, indem es „deutsche historische Realitäten“ (?) anerkennt?

Korrekt werden auch die äußerst schädliche Austeritätspolitik und exzessives Lohndumping beziehungsweise die hohen Quoten an Geringverdienern kritisiert. Diese Aussagen werden dann wieder mit wenig taufrischen und zehn bis 20 Jahre alten Behauptungen vom technologischen und wissenschaftlichen Rückstand gegenüber den USA garniert, was schon damals falsch war (zum Beispiel die Diskussion um Dienstleistungen versus Industrie). Der hohe Verschuldungsgrad des Landes ist ja gerade Ausdruck davon, dass es auf vielen technologischen Feldern nicht mehr konkurrenzfähig ist. Deshalb zeugt es von großer Unkenntnis, deutsche Maschinen und Autos neben digitalen amerikanischen Produkten als „nicht eben wahnsinnig innovativ“ zu deklarieren. „Werkstatt der Welt“ zu sein, wird bei einer solchen Akzentuierung zum Makel. Hier sollte man aber schon zwischen technologischem Niveau einerseits sowie Umweltanforderungen und ökonomischem Sinn andererseits unterscheiden können. Dann ist zudem an immer noch bestehende arbeitspolitische und wohlfahrtsstaatliche Differenzen zu gemahnen. Vergleicht man etwa die gesellschaftlichen Beiträge (Steuern, Sozialabgaben, Lohnniveau, Standortentwicklung) digitaler amerikanischer Erzeuger mit denjenigen industrieller europäischer Produzenten, dann sieht es böse für das hochgelobte Land aus.

Als groben Unfug schließlich muss man heutzutage das beklagte Fehlen einer „Weltklasse-Universität“ titulieren, weil inzwischen bekannt ist, dass mit dem eingeschlagenen Bologna-Weg hin zu sogenannten Eliteuniversitäten nicht nur der Wert der Ausbildungsabschlüsse sinkt, sondern die Qualität einer breiten Ausbildung generell. Aus einer Kolonie kommt man nicht heraus, indem man den Kolonisator nachahmt oder auf dem gleichen Feld übertrumpft. Dekolonialisierung gelingt allein durch Differenz und die Forcierung eigener Ressourcen und Stärken.

Breitenförderung statt individualisierender Eliteförderung; hohe Mindestlöhne, feste und sozialversicherungspflichtige Arbeit statt Lohndumping, Lohnspreizung und prekärer Arbeit; technische Innovation zur Entwicklung gesellschaftlicher Potenziale bei gleichzeitiger Bewahrung der äußeren und inneren Natur des Menschen; Verteidigung und Ausbau des Sozialstaats anstelle seiner Zerstörung; die Renaissance des Rechtsstaats im Sinne der Aufklärung anstelle eines überhand nehmenden Kontrollstaats unter dem Etikett terroristischer Bekämpfung sind angesagt. Gehen wir es an! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen etwas mehr redaktionelle Sorgfalt, und machen Sie es ansonsten gut!

HANS GÜNTER GREWER, Saarbrücken

Antiamerikanismus unterstellt

■ betr.: „Die Kolonie heißt Europa“, taz.de vom 7. 8. 13

Wir sind doch nur deshalb von Google und Facebook so abhängig, weil dem Boykott der beiden immer schon ein Geschmäckle von Antiamerikanismus unterstellt wurde. „Was? Du bist nicht bei Facebook? Dann fandest du bestimmt auch die Anschläge von 9/11 toll!“

Das Problem liegt auch nicht darin, wie viel Geld ausgegeben wird, sondern wofür. Und hier ist Deutschland eben sehr konservativ, während Japan, China und die USA doch deutlich innovationsfreundlicher sind. Die vielbeschworene „German Angst vor Neuerungen“ hat dabei sicherlich einen wahren Kern. Wer außer den Japanern könnte zum Beispiel schon auf die seltsame Idee kommen, eine Computerstimme zum Popstar zu machen, mit eigenem prominenten Kanal bei Nico-d und weltweitem Marketing (beziehungsweise selbst als prominenter Werbeträger für Toyota) …

Und wo wir schon dabei sind: All diese Länder haben sehr lebendige Metropolen, die der Kern eines innovativen Webs sind: Im Vergleich ist Berlin dann doch tiefste Provinz – so provinziell, dass man sich sogar über Schwaben aufregt. Und verglichen mit Berlin sind Paris und London in den letzten Jahren ihrerseits zur Provinz verkommen. Die Idee für das Web 2.1 wird aber nun mal nicht in Freising geboren … S10N, taz.de