Klein-Kasachstan im Ländle

AUS LAHR MARCO LAUER

Das Haus steht über der Stadt. Das erste gleich rechts in einer ruhigen Straße. Hinter den Fenstern hängen weiße Gardinen, die in der Mitte ein Dreieck freigeben. Gestutzte Lebensbäumchen stehen Spalier entlang der Treppe hinauf zur Haustür.

Besuch bei Familie Pahl, die vor elf Jahren aus Kasachstan nach Deutschland, nach Lahr, gekommen ist. Als Spätaussiedler, als Russlanddeutsche. Als Deutsche. Auf dem Esstisch steht Kuchen. „Badischer Apfelkuchen“, sagt Nina Pahl mit dem harten R und den lang gezogenen Vokalen ihres russischen Akzents. Nina Pahl ist eine Frau von 42 Jahren, ihre blond gefärbten Haare sind zu einem kinnlangen Bob geschnitten. Sie trägt ein blaues T-Shirt und bequeme Hausschuhe, die lautlos über den Laminatboden huschen. Der ist selbst verlegt – wie überhaupt fast alles an diesem Haus aus Eigenarbeit besteht.

„Über ein Jahr haben wir daran gebaut“, sagt Viktor Pahl, Ninas Mann, der älter aussieht als seine 49 Jahre. Ihre deutschen Nachbarn haben gesehen, wie Familie Pahl jeden Tag auf der Baustelle geschuftet hat. „Dadurch waren wir gleich ganz gut akzeptiert“, sagt Nina. Harte Arbeit wird hier in Baden-Württemberg, im Ländle, anerkannt. Diese Haltung versuchen die Pahls auch ihren Kindern zu vermitteln, deren Fotos an der Wand über der Couchlandschaft hängen. Andreas ist 18 Jahre alt, Nele 22. „Von Anfang an war Nele fleißig“, sagt der Vater und holt sie an den Tisch.

Da steht sie nun, eingerahmt zwischen ihren Eltern: Eine blonde junge Frau, lächelt mit ihren blauen Augen. Nach der Ankunft in der Bundesrepublik, sie war zehn, wurde aus ihrem schlechten Deutsch ein sehr gutes – binnen einem Jahr. Sie arbeitete mit eiserner Disziplin, als wollte sie damit ihre Dankbarkeit für den deutschen Pass bezeugen, den man ihr ausgestellt hatte. Das Abitur bestand Nele mit der Note 1,7. Seit zwei Semestern studiert sie an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Ludwigsburg. Ihr Ziel: Beamtin werden, Dienerin des deutschen Staates.

Vor fünfzehn Jahren, der Eiserne Vorhang war gefallen, begann die große Auswanderung. In Kasachstan und Sibirien, wohin Stalin die fast vier Millionen Russlanddeutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von der Wolga aus hatte deportieren lassen, ließ Helmut Kohl verkünden: Die Tore nach Deutschland stehen offen.

Viele der Wege in den Westen endeten wie jener der Familie Pahl in Lahr, der Stadt zwischen Freiburg und Offenburg mit ihren 40.000 Einwohnern. Nirgendwo sonst in der Republik ist der Anteil der Spätaussiedler so hoch wie hier, jeder vierte Lahrer spricht Deutsch mit russischem Akzent.

In Lahr zeigt sich, was großzügige Zuwanderungspolitik denen bringt, die sie machen: Bei der Bundestagswahl im Herbst haben 70 Prozent aller Spätaussiedler CDU gewählt, sie stimmten für Kohls „Mädchen“. In anderthalb Wochen nun können die Neu-Lahrer wieder einen Landtag wählen – die CDU wird auf sie zählen können. Ist Baden-Württemberg also das Musterländle für gelungene Integration?

Kollektivbildung in Lahr

Im Kanadaring, einem Stadtviertel am Rande Lahrs, wohnen fast nur Russlanddeutsche. „Klein-Kasachstan“ nennen es die Einheimischen. Hier liegt das Büro von Hilda Beck, der Sozialberaterin für Spätaussiedler. Vor ihrem Fenster stehen Ahornbäume, die wurden noch von den kanadischen Soldaten gepflanzt, die hier bis 1993 stationiert waren. Als ihnen mit dem Ende der Sowjetunion der Feind abhanden gekommen war, zogen sie ab. Und 8.000 Spätaussiedler aus ebendieser zerfallenen Sowjetunion ein.

Hilda Beck berät Russlanddeutsche, „meine Kunden“, denen es schwer fällt, sich einzuleben. Die Fremde geblieben sind, auch nach Jahren noch. „Besonders schwierig ist die Situation für Jugendliche, die in der Pubertät hierher kommen“, sagt Beck. „Sie verlassen ihre alten Freunde und beherrschen kaum die neue Sprache.“ Die Folge: Sie verschließen sich gegenüber der Außenwelt, bilden ihr eigenes „Kollektiv“, in dem sie ganz bewusst „die Russen“ sein können. Ein Stempel, den sich manche selbst aufdrücken.

Sergej zählt sich zu jenen, die den Stempel tragen. Er wohnt mit seinen Eltern im Kanadaring, in einer der gelbgrauen Mietskasernen, die hier wie Dominosteine hintereinander stehen. Sergej ist 17 Jahre alt, seine Haare sind kurz geschoren, die Wangenknochen rasiermesserscharf. Letztes Jahr hat er mit seiner Clique ein paar Mal versucht, in die Lahrer Disco Nachtwerk zu kommen. „Keine Russen, gibt nur Stress“, sagten ihnen die Türsteher. „Wir sind aber Deutsche“, war ihre Antwort. „Guckt euch doch mal an“, hieß es daraufhin.

Sergej sagt: „Wenn die Deutschen mich nicht wollen, ich brauch sie auch nicht.“ Deswegen verlässt er regelmäßig Deutschland. Immer samstags – auf der Bundesstraße 3 in Richtung Riegel, 25 Kilometer südlich von Lahr. Das Ziel: die Diskothek Energy. 800 Quadratmeter Russland, zwei Theken, eine Tanzfläche. Den Jungs hängen Goldkettchen über dem Rollkragen, den Mädchen liegen silberne Kreuze im Ausschnitt.

Heute Abend ist Minirockparty. Frauen mit sparsamem Stoffeinsatz um die Taille erhalten ein Gratisgetränk. Wie immer: Wodka aus Mineralwassergläsern, randvoll eingeschenkt. Die Stimmung steigt, als der Discjockey in sein Mikrofon ruft: „Denzing ewribahdi!“ Zu Madonnas „Hung up“ bilden junge Männer wie an unsichtbaren Fäden gezogen einen Kreis – nacheinander treten sie hinein. Auch Sergej. Tanzt Breakdance, den Helikopter, indem er Pirouetten auf dem Kopf vollführt wie ein spiegelverkehrter Derwisch. Die Mädchen am Rand der Tanzfläche kreischen vor Begeisterung.

Zurück nach Deutschland

Zufrieden sehen die Gesichter aus und glücklich, als am frühen Morgen der Wodka ausgetrunken ist und die Musik verstummt. Es geht zurück nach Deutschland. Um vier Uhr durch die Ausgangstür.

Nicht überall können sie, wie im Energy, dem Aufeinandertreffen mit ihren deutschen Landsleuten ausweichen. Aus Trotz und Gleichgültigkeit wird bei manchen Wut, schließlich eine Mischung aus Sprachlosigkeit und Gewalt. Dann sprechen die Fäuste.

So wie bei Andrej. Er schlug zu. Einmal, zweimal, bis sein Gegenüber am Boden lag. Nun sitzt Andrej hier auf dem Rand seines Bettes, das längs der Zellenwand steht. Innerhalb der 1,3 Kilometer langen Mauer, die sich wie eine Schlinge aus Beton um die Justizvollzugsanstalt Adelsheim zieht. Draußen dämmert es, und die beiden Laternenreihen, die vor und hinter der Mauer stehen, tauchen den riesigen Jugendknast in helles, kaltes Licht. In Adelsheim sitzen 450 junge Menschen ein, sie sehnen sich nach der Zeit danach. Jeder sechste von ihnen ist Russlanddeutscher, ihr Anteil im Knast ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen.

Vor sechs Jahren ist Andrej mit seiner Familie nach Deutschland gekommen. „Ich wollte nicht gehen“, sagt der 18-Jährige. Nicht dorthin, wovon seine Eltern als ihrer Heimat sprachen. Und dabei vergaßen, dass ihr Sohn seine Freunde und die gewohnte Umwelt gegen ein fremdes Land eintauschen musste. Das wenige, was Andrej hier verstand, war meist nichts Gutes. „Als ich gehört habe wieder: ‚Scheiß Russe‘, da bin ich ausgetickt“, sagt er und schlägt mit der Handkante gegen das Bettgestell. Seine Freundin schaut ihm dabei zu. Ihr Foto hängt in Postergröße an der Wand gegenüber, sie trägt Minirock und weiße Stiefeln. Er blickt hinüber, grinst und sagt: „Sie wartet auf mich.“

Sie wird sich gedulden müssen. Wegen schwerer Körperverletzung wurde Andrej zu zweieinhalb Jahren Jugendgefängnis verurteilt. Sieben Monate davon hat er verbüßt. In dieser Zelle, einem fünf Meter langen Schlauch, in dem man mit ausgestreckten Armen die Seitenwände berühren kann. Seine acht Quadratmeter Deutschland. „Manchmal“, sagt er, „ich träume, dass ich aufwache, und bin in Kasachstan.“

„Ehrlichkeit und Fleiß“

Dass sie sich nicht nach Kasachstan träumen müssen, um glücklich zu sein, darauf hoffen an diesem Sonntagvormittag hundert Menschen. Jede Woche kommt in einem weißgrauen Flachbau die russlanddeutsche Gemeinde Lahr zusammen – auf PVC-Fußboden und unbequemen Stühlen. „Nehmen Sie sich ein Kissen, das Leben ist schon hart genug“, sagt ein Mann mit der Statur eines Nahkämpfers. Sein schwarzer Anzug mit dem weißen Hemd darunter spannt an Schultern und Brust.

Alexander Gerzen ist der Prediger der methodistischen Gemeinde. Er justiert das Mikrofon, das auf drei Füßen vor ihm steht. In den dicht besetzten Stuhlreihen verstummt das Gemurmel. Einige alte Frauen mit Kopftüchern und Gehäkeltem um die Schultern sitzen in der zweiten Reihe. Ihre Köpfe sind gesenkt, der Blick richtet sich versonnen auf die zum Gebet ineinander verkeilten Hände. Dann beginnt der Prediger mit fester Stimme und in russischer Sprache: „Was kann uns freuen in diesem schweren Leben? Es ist die Hoffnung.“ Ein Nicken geht durch die Gemeinde, manche richten dazu beschwörend die Handflächen zur Decke. Dann fährt Alexander Gerzen fort: „Gott, hilf uns, die organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Nur die Ehrlichkeit und der Fleiß bringen uns Dir näher und helfen uns, in Deutschland akzeptiert zu werden.“

An Ehrlichkeit und Fleiß hat auch Familie Pahl geglaubt. Aber Nina Pahl kriegt immer wieder mit, wie ihre deutschen Kolleginnen hinter vorgehaltener Hand über sie reden. Sie nehmen dem Staat übel, wie viel Geld er in die Spätaussiedler steckt. „Man holt uns als Deutsche zum Arbeiten“, sagt sie. „Und wenn jemand von uns dann ein bisschen Eigentum aufbaut, dann sind wir gleich ein Dorn im Auge.“ Ihr Mann schaut sie an, presst die Lippen zum schmalen Lächeln, hebt die rechte Hand und lässt sie wieder auf das Wachstischtuch fallen. Neben dem Fernseher steht eine Matroschka, auf dem Fenstersims ein Einhorn aus deutschem Porzellan. Dazwischen sitzt Nina Pahl.