Linsensuppe schweißt zusammen

„Täglich 18 Minuten über unsere Argumente nachdenken, Herr Möllring, dann wäre ein Streik überflüssig!“

AUS DÜSSELDORF SIMON LENARTZ

In dem kleinen, weißen Bierzelt am Albert-Mooren-Brunnen riecht es nach Linsensuppe und Bockwürstchen. Es ist kurz nach halb elf morgens. An den blau-gelb gedeckten Biertischgarnituren sitzen nur wenige Männer und Frauen mit roten Ver.di-Mützen. Vor ihnen stehen dampfende Suppenteller mit grün-gräulicher Linsensuppe. Im hinteren Teil des Zeltes hat jemand eine elektronische Dartscheibe aufgestellt. Aus den Lautsprechern dudelt leise Musik. Auf einem weißen Papier-Plakat, das neben der Eingangstür klebt, steht mit rotem Filzstift geschrieben: „Wenn der Mensch keinen Mut hat, soll er nicht mehr am Leben teilhaben!“

Von der Moorenstraße in Düsseldorf dringen laute Sprechchöre und ein gellendes Trillerpfeifenkonzert in das kleine Zelt. Die etwa dreihundert Demonstranten, die mit Fahnen, Plakaten und Protestbändern, hinter einem Polizeiwagen herziehen, kommen von ihrem täglichen Protestmarsch über das Klinikgelände zurück. „Tarifvertrag jetzt, Tarifvertrag jetzt...“ und „Wir kommen wieder, wir kommen wieder...“, skandieren sie, während der Protestzug am Verwaltungsgebäude der Klinik vorbeizieht. „Wir gehen da erst wieder rein, wenn wir ein Ergebnis erzielt haben“, sagt Streikleiter Ralf Beyersdorfer und zeigt auf die Fensterfront des frisch renovierten Verwaltungsgebäudes. „Dafür war übrigens genug Geld da“, sagt Beyersdorfer lapidar, wendet sich ab und geht weiter. Der große, blonde Mann mit dem hellen Schnauzbart und dem Megaphon über der Schulter lächelt zufrieden. „Es ist erstaunlich, wie kampfbereit und ausdauernd die Leute sind“, sagt der Sprecher der Ver.di-Vertrauensleute. „Es erstaunt mich oft selber, dass wir noch immer Zulauf bekommen.“

Immerhin streiken die nicht-ärztlichen Angestellten der sechs nordrheinwestfälischen Unikliniken nunmehr seit fünf Wochen, seit dem 13. Februar. Auch in Düsseldorf kämpfen etwa 1.000 Gewerkschaftsangehörige um einen eigenen Tarifvertrag. Momentan sind sechs Stationen der Klinik lahm gelegt. Anästhesie, Kardiologie, Neurologie, Hautklinik, Hals-Nasen-Augen-Klinik und Orthopädie werden bestreikt. Mindestens 500 Mitarbeiter sind ständig im Ausstand. Außerdem Teile der Organisation, die Sterilisationsabteilung, die Küche und die Wäscherei. „Die Nadelöhre der Klinik“, wie der Personalratsvorsitzende und Streikleiter Martin Koerbe-Landwehr mit einem Grinsen sagt. „Das ist unsere Taktik. Wir wollen klarmachen, dass ohne uns nichts mehr geht.“ In der Küche arbeiteten beispielsweise fast nur noch Studentinnen und Studenten – gekocht wird aber noch. Denn schließlich wolle man ja nicht den Patienten schaden, so Koerbe-Landwehr.

Im Streikzelt ist es inzwischen rappelvoll. Laute, orientalische Popmusik dröhnt aus den Boxen. Vor dem Ausschank drängen sich die durchgefrorenen Protestler. Elke Schilhabel steht hinter der Theke. Seit zwei Wochen füllt die gelernte Apothekerin statt Medikamenten Suppe, Kaffee und Kakao ab. So lernt man sich kennen: „Für unsere Moral ist das sehr wichtig. Inzwischen sind wir so etwas wie eine große Familie geworden“, sagt die pharmazeutisch-technische Assistentin. Auch ein Teller heiße Linsensuppe schweißt zusammen. „Linssensuppe“: das ist zur Zeit der Running-Gag im Streikzelt, mit dem sich Schilhabel und ihre MitstreiterInnen über den Kontrahenten im Tarifstreit, den NRW-Finanzminister Helmut Linssen, lustig machen.

Auf dem weitläufigen Klinikgelände ist zur gleichen Zeit nur wenig los. „Es ist hier wie sonntags“, sagt Krankenpfleger Klaus Roggausch, „unsere Ärzte haben zur Zeit ziemlich viel Zeit für Pausen.“ Der Pfleger ist seit zwei Wochen im Streik. Sein Arbeitsplatz, die Hals-Nasen-Augen-Klinik 3, liegt recht verlassen da. Die Flure des einhundert Jahre alten Gebäudes sind leer. Die 26 weißen, gemachten Betten in den Zimmern des Obergeschosses sind unbelegt. Es riecht nicht steril, nicht nach Krankenhaus, sondern eher unbewohnt. „Das ist eine Station, wo sonst Betrieb wie auf dem Hauptbahnhof ist“, versichert Roggausch, „mit Infusionsständern, Patienten, wuselnden, in weiß gekleideten Pflegern...“ Davon ist heute nichts zu sehen. Nur um die Blumen zu gießen verirrt sich jemand in die leeren Zimmer. „In allen anderen Stationen sieht es im Prinzip genau so aus“, sagt Martin Koebe-Landwehr während er und sein Kollege den Blick über die langen, menschenleeren Flure schweifen lassen: „Es ist leer!“

Vor dem Streikzelt ist es um so voller. Die Streikenden stehen in kleinen Gruppen, zu zweit, zu dritt, oder zu viert beisammen, sitzen in der Sonne, rauchen und reden über den harten Kurs der Politiker und die Arbeitsniederlegung. An den Plastikwänden des Zeltes hängen Fotos vom Ausstand aus den vergangenen Streikwochen. Jemand hat ein schwarz-weiß Foto des niedersächsischen Finanzminister Hartmut Möllring zwischen die bunten Bilder gehängt. Unter dem grinsenden Gesicht des Verhandlungsführers der Bundesländer steht: „Täglich 18 Minuten über unsere Argumente nachdenken, Herr Möllring, dann wäre ein Streik überflüssig!“

„Streiken ist ein Grundrecht“, sagt Peter Andre, „da ist man immer im Recht.“ Der kleine Mann lächelt schief unter seiner Schirmmütze hervor. „Es geht uns ja nicht um 18 Minuten mehr Arbeit pro Tag“, sagt Andre, „aber mir ist es lieber, ich behalte die Arbeitszeit und wir können einen oder zwei neue Kollegen einstellen.“ Die Forderung der Länder, 40 Stunden zu arbeiten, sei ein Rückschritt und kein Fortschritt, so Andre. „Bald haben wir wieder Arbeitszeiten wie im 19. Jahrhundert und eines ist doch klar: So produzieren wir Arbeitslose.“

Momentan produzieren sie allerdings mehr Arbeit für die anderen Düsseldorfer Krankenhäuser. „Das sind natürlich die Einnahmen, die den Arbeitgebern dann fehlen“, sagt Krankenpfleger Klaus Roggausch, und seine Freude darüber kann er nur schlecht verbergen. „Das tut dann schon weh.“ Die Patienten selbst seien ziemlich solidarisch, meint er. Und Martin Koebe-Landwehr pflichtet ihm bei: „95 Prozent der Patienten reagieren positiv, auch wenn wir sie nicht behandeln können.“ Nichts desto trotz ist die Notversorgung gesichert. Vier der zehn großen Operationssäle arbeiten weiter. „Aber für die Angestellten wirkt das Klinikum wie ausgestorben.“

Um drei Uhr sitzen nur noch vereinzelte Grüppchen im Streikzelt – die Spätschicht, die, wie Koebe-Landwehr sagt, „Stallwache“ hält. „Wenn die Leute ab halb sechs auf den Beinen sind, dann verlangt auch niemand mehr, dass sie bis zum Abend hier sind“, sagt Koebe-Landwehr. „Billig ist krank“, steht auf den gelben Buttons, die an den Jacken und Pullovern der Unentwegten stecken. Es riecht immer noch nach Linsensupe.