„Wir können uns über vieles unterhalten“

Gehören Michael Müller (SPD) und Volker Ratzmann (Grüne) in Wahrheit einer Partei an? Zumindest entdecken die Fraktionschefs im Streitgespräch große Gemeinsamkeiten bei den Wahlkampfthemen Bildung und Forschung. Der SPD-Koalitionspartner Linkspartei kommt hingegen schlecht weg

MODERATION MATTHIAS LOHRE

taz: Herr Ratzmann, Herr Müller, wir können uns eine Menge Gesprächszeit sparen. Schreiben Sie bitte auf diese Zettel, wie viel Prozent Gemeinsamkeiten SPD und Grüne aus ihrer Sicht haben. Jeder für sich. Und nicht schummeln!

Volker Ratzmann: Sie meinen die inhaltlichen Überschneidungen einer rot-grünen Regierung?

Genau.

(Ratzmann und Müller schreiben kurz entschlossen auf ihre Zettel, falten ihn und reichen ihn über den Tisch)

Danke. Das Ergebnis: Herr Ratzmann kommt auf 75 Prozent, Herr Müller auf 70. Eine Menge Gemeinsamkeiten. Sitzen hier die künftigen Koalitionäre beisammen?

Michael Müller: Warum sollten wir nicht zusammensitzen?

Weil Sie damit beschäftigt sein sollten, mit ihrem Koalitionspartner Linkspartei zusammenzuarbeiten – und nicht den Grünen schöne Augen zu machen.

Müller: Wir arbeiten mit den Grünen im Parlament auch jetzt schon bei einigen Projekten zusammen. Gemeinsame Regierungserfahrung haben wir auch. Wir können uns über vieles miteinander unterhalten.

Ratzmann: Und jetzt ist die Zeit, diese Gemeinsamkeiten auszuloten. Auf Bundes- und Landesebene hat Rot-Grün eine Menge angeschoben. Das bekäme dieser Stadt auch in Zukunft gut.

Wirklich? Vor kurzem riefen Sie, Herr Ratzmann, noch: „Rot-Rot ist am Ende!“ Galt das etwa nur für die Linkspartei?

Ratzmann: SPD und Linkspartei bilden eine besondere Regierungskoalition. Beide Parteien haben denselben kulturellen Hintergrund. Da sind Innovation und Fantasie vor einiger Zeit auf der Strecke geblieben.

Müller: Rot-Rot ist nicht am Ende, Herr Ratzmann. Noch heute, wenige Monate vor der Wahl, beschließt der Senat Gesetze, die Vorgängerregierungen nicht einmal angefasst haben. Schauen Sie nur, was wir allein in der letzten Plenarsitzung beschlossen haben: das Straßenausbaubeitragsgesetz, den Masterplan für die Gestaltung des Kulturforums oder den Kirchenvertrag. Wir bleiben bis zum letzten Tag handlungsfähig.

Ratzmann: Trotzdem bleiben viele wichtige Entscheidungen liegen. Wie will der Senat den enormen Unterrichtsausfall an Schulen beheben? Und was geschieht angesichts unhaltbarer hygienischer Zustände in Schulen und Kitas? Der Senat muss in Bildung hunderte Millionen Euro mehr investieren als heute.

Wie wollen Sie das bezahlen?

Ratzmann: Finanzsenator Thilo Sarrazin rechnet mit bis zu 2,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen in den kommenden Jahren. Dabei vergessen wir nicht das Sparen. Mindestens 1 Milliarde Euro der zusätzlichen Gelder wollen wir fest für den Schuldendienst einplanen.

Müller: Sie glauben immer noch, dass man jedes Defizit mit Geld ausgleichen kann. Aber es kann noch Jahre dauern, bis Berlin durch Bundeshilfen mehr Mittel zur Verfügung stehen. Deshalb stecken wir zwar auch Mittel in die Sanierung von Schul- und Sportstätten und in das Ganztagsschulprogramm. Mindestens genauso wichtig ist das strukturelle Umsteuern: Kinder erhalten Ganztagsangebote und können in der Schule essen. Wir haben die Horte an die Schulen gekoppelt und die verlässliche Halbtagsgrundschule eingeführt.

Der Bund allein wird das Geld für weitere Investitionen in Kitas, Schulen und Unis nicht spendieren.

Ratzmann: Mit mehr Inspiration und Fantasie kann man viel mehr erreichen, als das Wirtschaftssenator Harald Wolf derzeit tut.

Müller: Herr Wolf macht gute Arbeit. Er hat die Wirtschaftsförderung neu aufgestellt. Eine zentrale Anlauf- und Koordinierungsstelle bündelt jetzt alle Investorenanfragen. Gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister kann er Erfolge bei der Ansiedlung von Unternehmen vorzeigen.

Wir reden ja gerade von Rot-Grün, nicht Rot-Rot. Was würde ein SPD-Wirtschaftssenator nach der Wahl anders machen?

Müller: Bei allen Erfolgen – ein Sozialdemokrat würde auch andere Schwerpunkte setzen. Wir brauchen noch mehr Engagement bei Unternehmensansiedlungen, besonders in den Technologie- und Wissenschaftszentren Adlershof und Buch. Wir wollen außerdem noch mehr Kooperationen zwischen Uni-Forschungseinrichtungen und Unternehmen.

Ratzmann: Und was haben die Linkspartei-Senatoren für den Arbeitsmarkt geleistet? Die Spielräume der rot-grünen Hartz-IV-Gesetze haben andere Bundesländer besser genutzt als Berlin – bei aller Kritik, die auch wir daran haben. 30.000 1-Euro-Jobs will Herr Wolf schaffen anstelle sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. Wolf und Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner haben im vergangenen Jahr 300 Millionen Euro Arbeitsmarktgelder vom Bund verfallen lassen. Das ist ein Armutszeugnis.

Müller: Sie wissen doch ganz genau, dass es in anderen Bundesländern ganz ähnlich aussieht. Auch anderswo werden nur etwa 50 Prozent der bereitstehenden Mittel abgerufen. Aber zugegeben: Es hat nicht gerade geholfen, dass ausgerechnet die beiden Senatoren die Hartz-IV-Reformen umsetzten, die grundsätzlich dagegen waren.

Beim Thema Studiengebühren drückt sich der rot-rote Senat um ein eindeutiges Nein. Wie wollen die Grünen das Bezahlstudium verhindern?

Ratzmann: Indem wir die SPD überzeugen, dass Berlin 100.000 ausfinanzierte Studienplätze braucht. Die Studierenden sind ein wichtiges Wirtschaftspotenzial, das wir nutzen wollen. Wir lassen gern mit uns über den Vorschlag von Herrn Wowereit reden, der eine Art Länderfinanzausgleich für Studierende fordert. Sonst schwappt eine Welle aus Süddeutschland nach Berlin: Reiche Bundesländer, die Studiengebühren eingeführt haben, würden ihre jungen Leute auf Kosten der armen Hauptstadt ausbilden lassen.

Müller: Da haben Sie Recht. Der Druck auf Berlin wird sehr stark werden, wenn andere Bundesländer Studiengebühren einführen werden. Aber wir halten unser Studienkontenmodell für eine gute Lösung – also das gebührenfreie Erststudium. Nur wer wesentlich länger als die Regelstudienzeit braucht, muss zuzahlen.

Alles keine grundlegenden Unterschiede zwischen Rot und Grün. Was birgt Stoff für einen echten Koalitionskrach?

Müller: Ich bin sehr gespannt, ob die Grünen sich in der Regierung wegducken würden. In den vergangenen Jahren haben wir in vielen Punkten sehr gut zusammengearbeitet, auch bei Verfassungsänderungen. Aber kurz vor der Abstimmung haben die Grünen oft noch zwei, drei Halbsätze in den Gesetzestext eingefügt – damit sie nicht zustimmen mussten. In einer Koalition kann man nicht zu 70 bis 80 Prozent zustimmen. Auch die Grünen müssten Kröten schlucken.

Ratzmann: D’accord. Aber für die SPD gilt dasselbe. Sie dürfen die schwierigen Strukturentscheidungen nicht aussitzen: Was geschieht mit den dutzenden Unternehmensbeteiligungen Berlins? Die Landesunternehmen müssen effizienter wirtschaften. Wir können es uns schlicht nicht leisten, hier Reformen auf die lange Bank zu schieben.

Machen wir es konkret. Die SPD will mindestens 250.000 der 280.000 landeseigenen Wohnungen behalten. Die Grünen wollen 160.000, gleichmäßig verteilt über die Bezirke. Wie viele Wohnungen braucht das Land, um Kieze mitzugestalten?

Ratzmann: Erst mal müssen wir schauen: In welchen Kiezen muss die Wohnungspolitik des Senats eingreifen? Dann müssen wir prüfen, ob die Wohnungsbauunternehmen diese Aufgaben angehen können. Oder müssen wir sie erst umbauen? Dafür brauchen wir einen Kassensturz. Festklammern an bestimmte Wohnungszahlen bringt nichts.

Müller: Bei der Privatisierung von Landesunternehmen trennt uns von den Grünen ein tiefer Graben. Sie, Herr Ratzmann, stellen alle Beteiligungen infrage. Das geht vom Klinikkonzern Vivantes über die BVG bis zu den Wohnungsunternehmen. Das ist FDP-Position. Mit uns ist das nicht zu machen. Wir wollen 13 bis 15 Prozent der Berliner Wohnungen, also rund 250.000 bis 280.000 Stück, in städtischer Hand behalten. Nicht nur um die Mieten beeinflussen zu können, sondern auch um stadtpolitische Akzente zu setzen, etwa beim Quartiersmanagement.

Trotzdem will die Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) bis zur Hälfte ihrer Bestände verkaufen, um sich vor der Insolvenz zu retten. Wie passt das zusammen?

Müller: Um gerettet zu werden, muss die WBM sicher weitere Bestände verkaufen, über die jetzt geplanten 3.000 Wohnungen hinaus. Die Frage ist nur: wie viele, an wen und zu welchen Bedingungen? Das müssen ja nicht immer Fondsgesellschaften wie Cerberus oder Apellas sein, die schon große Bestände in der Stadt aufgekauft haben. Da können auch große, starke Genossenschaften zum Zuge kommen.

Ratzmann: Sehen wir auch so. Ein Ausverkauf à la Dresden ist mit uns nicht zu machen. Für uns ist Privatisierung keine ideologische Frage. Wir wollen den Landesunternehmen klare Vorgaben machen, was sie im Dienste Berlins leisten sollen …

Müller: … das geht nicht, wenn Sie sie verkaufen.

Ratzmann: Darum geht es nicht. Mit den bestehenden Instrumenten lassen sich die Unternehmen nicht kontrollieren. Bei der landeseigenen BVG beispielsweise wedelt der Schwanz mit dem Hund. Wenn das Land den Verkehrsbetrieben quasi ein Monopol einräumt, dann müssen die Berlinerinnen und Berliner dafür zahlen. Welches Unternehmen mit welchem Bus wo und für welchen Preis fährt, das soll die Politik entscheiden. Deshalb muss die BVG aber noch lange nicht privatisiert werden.

Herr Müller, Herr Ratzmann, bleibt’s bei den 70 bis 75 Prozent Übereinstimmung?

Müller: Klar. Aber ich bin gespannt, wer bei den Grünen bei möglichen Koalitionsverhandlungen den Hut aufhätte. Davon hängt vieles ab.

Ratzmann: Dito, Herr Müller. Aber ich mache mir da keine großen Sorgen. Ich gehe davon aus, dass wir beide uns dann wieder treffen würden.