Die heimliche Revolution

Liebe, Sex und Kopftuch: Die Journalistin Hilal Sezgin porträtiert junge Türkinnen ihrer Generation. Ihr Buch „Typisch Türkisch?“ füllt die Lücke zwischen Biografie-Literatur und soziologischen Studien

VON DANIEL BAX

Die türkische Frau steht derzeit unter verschärfter Beobachtung. Immer höher türmt sich in den Buchläden der Stapel mit Betroffenheitsliteratur, die den Leidensweg türkischer Frauen in Deutschland in den düstersten Farben ausmalt. Autorinnen wie Necla Kelek vertrauen zwar ganz auf die Bauchnabelperspektive, leiten daraus aber allgemeine Betrachtungen über den Zustand der Einwanderungsgesellschaft sowie ganze Kulturtheorien ab.

Als Gegenbewegung dazu hat sich ein Genre etabliert, das sich strikt auf die Sonnenseiten des multikulturellen Alltags konzentriert: Autorinnen wie Asli Sevindim („Candlelight Döner“), Hatice Akyün („Einmal Hans mit scharfer Soße“) oder Dilek Güngör („Unter uns“) erfreuen ihre Leserschaft mit 1.001 humorigen Anekdoten über die Liebhaberqualitäten von deutschen und türkischen Männern im Kulturvergleich, die Integrationsprobleme deutscher Schwiegersöhne in eine anatolische Sippe sowie den kulinarischen Kampf der Kulturen am Küchentisch. Sie klären die Deutschen darüber auf, was diese schon immer über Beinenthaarung und andere Epiliertechniken wissen sollten, aber nicht zu fragen wagten. Vom Feuilleton werden sie zwar weitgehend ignoriert. Aber weil sie ihren Migrationshintergrund als reine Lifestyledifferenz zelebrieren, empfehlen sie sich als emanzipierte Identifikationsfiguren für Gleichgesinnte.

Solche Frauen stellt die Journalistin Hilal Sezgin in ihrem Porträtband „Typisch Türkisch?“ anhand von Interviews vor: Frauen wie die 25-jährige Gülbahar, die von einer Karriere als Tänzerin träumt, seit sie das erste Mal den Film „Flashdance“ sah. Auch bei der allein stehenden Anwältin Zahide, die in einer internationalen Kanzlei in München arbeitet, kann man sich gut eine Lektüre wie „Candlelight Döner“ auf dem Nachttisch vorstellen und erst recht bei der verheirateten Wirtschaftswissenschaftlerin Tunca, die zur Arbeit gerne Nadelstreifenkostüm trägt und in ihrer Freizeit am liebsten mit ihrer besten Freundin Meral auf dem Sofa sitzt, um über Männer zu reden.

Alle drei gehören zu den insgesamt 19 türkischstämmigen Frauen im Alter von 25 bis 45 Jahren, die Sezgin für ihr Buch getroffen hat. Zwar dominieren in ihrer Auswahl die Akademikerinnen, die als Ärztin oder Anwältin beruflich erfolgreich sind; aber sie hat auch mit einfachen Hausfrauen und Angestellten gesprochen. „Typisch Türkisch?“ füllt damit genau die Lücke, die zwischen biografischer Bekenntnisliteratur und soziologischen Studien über türkische Frauen in Deutschland klafft. Obwohl sie mit ihren Interviews wie eine Sozialforscherin vorgegangen ist, erhebt Sezgin keinen Anspruch auf Repräsentativität. Im Gegenteil: Die Biografien zeigen, dass sich türkisches Leben in Deutschland nicht so leicht auf einen Nenner bringen lässt. Hilal Sezgin hütet sich deshalb vor leichtfertigen Verallgemeinerungen. Aber indem sie sich in ihren Gesprächen auf Kernthemen wie Liebe, Sex und Religion konzentriert, stößt sie auf ein paar Gemeinsamkeiten: Denn viele hegen, wie die Reisebürokauffrau Ahu, eher traditionelle Vorstellungen von Liebe und Ehe und oft genug sogar den Wunsch, als Jungfrau in die Ehe zu gehen. Ein ausgeprägter Familiensinn, vom starken Bedürfnis nach Harmonies mit den Eltern bis zum eigenen Kinderwunsch, ist ebenfalls häufig anzutreffen.

Die Pubertät, so viel wird auch klar, stellt für viele türkische Mädchen eine heikle Phase dar, weil ihre Tugendhaftigkeit den Eltern noch immer als hohes Gut gilt – und sei es nur, um das Gerede der Nachbarn zu vermeiden. Doch in der Grauzone zwischen elterlicher Fürsorge und sozialer Kontrolle finden die Mädchen viele Wege zur Selbstständigkeit. Bei manchen äußert sich der Freiheitsdrang eher in großer Reiselust und beruflichem Ehrgeiz. Andere berichten dagegen freizügig von ihren amourösen Eskapaden und dem Verzicht auf überkommene Gesten des traditionellen Respekts – etwa auf das Tabu, vor den Eltern zu rauchen.

Die Religion ist nur für eine Minderheit ein Thema, und auch hier dominiert die individuelle Sinnsuche sowie die Ambivalenz gegenüber dem Kopftuch und anderen Dogmen. Sezgin hat eine Kopftuch tragende Anwältin befragt und eine Putzfrau am anderen Ende der sozialen Skala. Zwischen diesen beiden Polen gibt es sicher noch viele andere Realitäten. Doch Sezgin hat keine Frau gefunden, die sich vom Kopftuchdiktat befreien, und keine, die einen Bruch mit der Familie wagen musste, um auf eigenen Beinen zu stehen. Vielleicht liegt das auch nur daran, dass man solche Geschichten nicht gerne gleich einer Journalistin anvertraut.

Eines wird trotzdem deutlich: Unbemerkt von einer breiten Öffentlichkeit, die ein eher statisches Bild von ihren Migranten pflegt, hat sich unter diesen in den letzten Dekaden eine heimliche Kulturrevolution ereignet. Das Ausmaß der Veränderungen lässt sich an Scheidungsquoten und Geburtenraten nur ungefähr ablesen. Doch der Trend ist unübersehbar. Zwar bildet die Ehe in vielen türkischen Familien noch immer das Ideal, aber immer seltener hält sie ein ganzes Leben lang. Und während die „erste Generation“ häufig genug mit sechs oder sieben Geschwistern aufwuchs, gibt sich die „zweite“ heute oft schon mit zwei Kindern zufrieden.

„Typisch Türkisch?“ zeigt diese Realität, und zeichnet die Migration gerade für türkische Frauen als Erfolgsgeschichte: eine Perspektive, die in der hiesigen Integrationsdebatte leider viel zu kurz kommt.

Hilal Sezgin: „Typisch Türkin? Porträt einer neuen Generation“. Herder, Freiburg i. Br. 2006, 192 Seiten, 12,90 €