Nur ein Altern, keine Entwicklung

Aufstehen, anziehen, Zähne putzen, pinkeln, ins Schneideratelier gehen, vor dem Fernseher liegen, am Wochenende trinken: Elke Naters erzählt in „Justyna“ auf leider eher uninteressante Weise ein leider eher uninteressantes Leben

Elke Naters will einen Menschen zeigen, der immer Leidenschaft gesucht hat, aber auf einer lauwarmen Zufriedenheitsstufe gelandet ist

Ein kurzer Rückblick: Mitte der Neunzigerjahre gab es einen literarischen Trend, den man ebenso unfreundlich wie treffend unter dem Label „Popliteratur“ zusammenfasste und der zur Folge hatte, dass jeder Anfang zwanzig, der einen deutschen Satz zu Ende bringen konnte, ganz gut aussah und sich mehr oder weniger kompetent mit Themen wie Erwachsenwerden, Musik, Drogen et cetera auseinander setzen konnte, relativ schnell einen Verlag fand, der das Ganze auch druckte und bereit war, „Roman“ auf den Umschlag zu schreiben. Internettagebücher waren groß in Mode, und wenn die Internettagebücher einen bestimmten Umfang erreicht hatten, wurden sie als Buch publiziert. Eine herrliche Zeit eigentlich.

Rückblickend lässt sich sagen, dass den besseren der Popliteraten zumindest eine gewisse Komik und Dynamik nicht abzusprechen war. Und dann gab es einige wenige dieser Autoren, von denen man ziemlich sicher sein durfte, dass es auch nach dem Abebben der Welle mit ihnen weitergehen könnte. Die sich sozusagen von hinten an das Gespenst, das sie selbst geschaffen hatten, heranpirschten und ihm auf elegante Weise die Luft rausließen. Christian Kracht, der das alles überhaupt angezettelt hatte, zählte mit „1979“ ganz gewiss dazu. Vielleicht auch Elke Naters, so hatte man sich das jedenfalls gedacht damals, als ihr ziemlich kluger Roman „Mau Mau“ erschien. Man fühlte sich bei der Lektüre dieser Romane ein wenig wie auf einer Beerdigung. Und witterte literarische Substanz.

Nun, vier Jahre nach ihrem letzten Roman, hat Elke Naters ein neues Buch geschrieben, „Justyna“. Zumindest in diesem Fall muss man sich eingestehen, dass das mit der Substanz leider ein bedauerlicher Irrtum war.

Elke Naters, das erzählt der Klappentext, ist 1963 geboren, machte eine Schneiderlehre, studierte Kunst und Fotografie und lebt heute mit ihrer Familie in Kapstadt. Justyna, ihre Protagonistin, ist 1963 geboren, macht eine Schneiderlehre und daneben eine Menge überflüssigen Kram. Irgendwann hat sie plötzlich eine Familie, ist eine nicht unbedeutende Fotografiekünstlerin und schwimmt am Ende ein wenig zu weit aufs Meer hinaus. In Kapstadt. Kann man schon mal erzählen, so ein Leben. Aber so? Jedes Lebensjahr bildet ein Kapitel, angefangen 1979 (ein Epochenjahr offenbar), als Justyna zum ersten Mal sterben will, weil ihre Tage nicht pünktlich kommen.

Justyna macht, was junge Menschen eben so machen, bricht die Schule ab, hängt ein bisschen in Clubs rum, probiert Drogen aus, geht eine Zeit lang ins Ausland, hat nach ihrer Rückkehr Sehnsucht nach diesem Ausland, ritzt mal mit einer Scherbe ein bisschen an ihrem Unterarm herum, legt sich mit ihrer Mutter an, vögelt durch die Gegend, zieht von München nach Berlin. Sie hat einen Freund, eigentlich hat sie ständig einen Freund, aber auch andere Sexualpartner. Wer sie haben will, bekommt sie auch. Sie sagt Sätze wie: „Ich bin 18. Ich kann nach Hause kommen, wann ich will.“ Muss man so etwas wirklich in einen Roman schreiben?

Überhaupt bleibt Elke Naters so dicht an ihrer Figur, dass wir eine Menge von dem mitbekommen, was wir eigentlich gar nicht wissen wollten: vom fehlenden Klopapier (weswegen frau die Hand zur Hilfe nimmt), über das Sperma auf dem Küchentisch nach einem Coitus Interruptus (Küchenpapier), die schwere Geburt („von der Scheide bis zum After aufgeschnitten“), den Mangel an sauberen Unterhosen, den Muffigkeitsgrad des Schlafanzugs bis hin zu einer über mehrere Seiten detailliert geschilderten Gruppensexszene.

Was Naters mit all dem bezweckt, ist offensichtlich – ein Leben in seiner Entwicklung durchzuerzählen, einen Menschen zu zeigen, der immer Leidenschaft gesucht hat und letztlich auf einer lauwarmen Zufriedenheitsstufe gelandet ist, als Mutter, die sich mit zu langen Supermarktschlangen und sonstiger Alltagsbewältigung zu arrangieren hat.

Das aber funktioniert aus zweierlei Gründen nicht: erstens, weil Naters’ Sprache trocken, leidenschaftslos, ja geradezu unliterarisch bleibt. Und zweitens, weil ihre Hauptfigur mit dem Wort „uninteressant“ noch freundlich umschrieben ist.

Das Jahr 1982 zum Beispiel wird in exakt drei Seiten abgehandelt und geht so: wochentags aufstehen, anziehen, Zähne putzen, pinkeln, ins Schneideratelier gehen, ein Bad nehmen, vor dem Fernseher liegen. Am Wochenende trinken „bis zum Umfallen“, schlafen bis zum Nachmittag, am Sonntag traurig sein, weil morgen wieder Montag ist. Die Fabrik hat eben immer Recht. All dem, so wird suggeriert, ist man ebenso schuld- wie hoffnungslos ausgeliefert.

Überhaupt wird, so scheint es, Justyna mehr durch die Zeit geschoben, gezogen, geworfen, als dass sie selbst hindurchginge. Eine solche Existenz, deren innerer Zustand ausschließlich über Äußerlichkeiten definiert ist, ist bedauernswert. Und die Person, die diese Existenz führt, in der Regel nicht sonderlich schlau. 23 Jahre begleitet man Justyna, nur ein Altern, keine Entwicklung; so viel erlebt, so wenig daraus gemacht. Ein Mensch mit Sehnsüchten, ganz bestimmt, der konsequent alles tut, damit keine einzige dieser Sehnsüchte sich erfüllen kann. 1988 liegt sie, nach einem Streit mit ihrem Freund, auf einer Wiese, „langsam fielen die Flocken, blinkende Lichter. Stimmen aus der Ferne ganz nah an ihrem Ohr. Und das war es jetzt?, dachte sie erstaunt, ohne jedes Bedauern.“ Auch das Bedauern des Lesers hätte sich in Grenzen gehalten. CHRISTOPH SCHRÖDER

Elke Naters: „Justyna“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 258 Seiten, 18,90 €