Seifenblasen und Naturgewalt

JUBILÄUM Das Literarische Colloquium Berlin feierte am Wochenende „50 Jahre inmitten der Literatur“

Umherstreifen, Flanieren und Verweilen – ein literarischer Rave

VON TIM CASPAR BOEHME

Sven Regener fand es „voll stark“. Das sei ein „Literatur-Rave“ im „Literaturerlebnispark Wannsee“. Der Schriftsteller und Sänger der Band Element of Crime gab die Stimmung beim Sommerfest im Literarischen Colloquium Berlin (LCB) am Samstag damit recht treffend wieder. Über dem Wannsee verschwanden gerade die letzten abendlichen Lichtschimmer, im Garten verteilten sich die Besucher auf dem Rasen oder an den Wurst- und Bierständen, während am Ufer eine beachtliche Zahl von Menschen den in Regeners breitem Bremer Akzent verlesenen Abenteuern des Protagonisten aus seinem im September erscheinenden Buch „Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“ lauschte.

Doch so friedlich wie bei dem Ausblick auf die Fortsetzung der „Herr Lehmann“-Saga – Karl Schmidt war in Regeners Debütroman der beste Freund der Titelfigur, der beim Fall der Mauer einen Zusammenbruch erlitt und für Jahre in die Psychiatrie musste – schien der Festtag zum 50-jährigen Bestehen des LCB zunächst nicht verlaufen zu wollen. Nachmittags, zu Beginn der Lesung am Seeufer mit Texten von Roberto Bolaño, hatte der Übersetzer Christian Hansen gerade von Bolaños Aufenthalt am Colloquium im Jahr 1999 und von dessen gern mal abfälligen Äußerungen über literarisch weniger ambitionierte Kollegen berichtet, da wirbelte ein heftiger Windstoß gewittergraue Wolken heran. Wie auf ein Zeichen flüchteten die Gäste scharenweise die verschlungenen Wege zum Haus hinauf, bevor der Moderator Jürgen Jacob Becker überhaupt unterbrechen konnte.

In der immerhin ziemlich großen Gründerzeit-Villa an Wannsee mussten die Regenflüchtigen dann erst einmal im Gedränge ausharren, folgten, so weit möglich, dem Programm, das man kurzerhand nach innen verlegt hatte, oder suchten sich in einem der verwinkelten Gänge eine Nische zum Kuchenessen. Im Garten vor dem Haus schritt unterdessen ein Mann einher, der stark an den Literaturwissenschaftler und LCB-Mitgründer Norbert Miller erinnerte, und trotzig unter den Tropfen ausrief: „Es regnet nicht!“

Auch spät am Abend, als sich die Wolken längst wieder verabschiedet hatten, sollte es noch zu unerwarteten Interventionen kommen: So hatte die Lesung von Nora Gomringer kaum begonnen, da knallte ein Feuerwerk los. In einiger Entfernung zwar und wohl zu einem anderen Anlass, aber weithin hör- und sichtbar. Die Dichterin nahm es mit Humor und ließ sich nicht von der Darbietung ihrer „Monster Poems“ abbringen. Das Publikum erfuhr Aufschlussreiches über Babys, Ehemänner und den Serienmörder Fritz Haarmann, mit sehr viel Witz dargeboten.

Das galt insbesondere für Gomringers rasend komisches Gedicht „Sag doch mal was zur Nacht“, das sie auf Wunsch der Moderatorin Claudia Schütze und sehr anschaulich mit verteilten Geschlechterrollen las. Für die Feier hatte Gomringer eigens ein paar Zeilen über den „Hortus conclusus“ mitgebracht, eine Anspielung auf die idyllische Lage des Hauses, die sie dem Leiter Ulrich Janetzki widmete. Der weilte allerdings gerade woanders im Haus und musste sich hinterher von dem Geschenk berichten lassen.

Janetzki selbst verzichtete in seiner Begrüßung auf Bemerkungen zur Geschichte des LCB und hieß seine Gäste lieber mit einer Seifenblasen-Pistole willkommen. Wer wollte, konnte sich drinnen auf Texttafeln über Vergangenheit und aktuelles Angebot der 1963 von Walter Höllerer ins Leben gerufenen Institution informieren. Auf den zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotos Renate von Mangoldts, die über Jahrzehnte die Autoren am Haus von Thomas Bernhard über Hubert Fichte bis Felicitas Hoppe porträtierte, konnte man einige der anwesenden Besucher wiederfinden, darunter die Schriftstellerin Katharina Hartwell, in diesem Monat Stipendiatin des LCB.

Überhaupt gehörte das Umherstreifen, Flanieren und Verweilen mindestens ebenso sehr zum Sommerfest wie die Lesungen. Sofern das Wetter es erlaubte, wechselte das Programm von der Terrasse oben am Haus zur Rotunde unten am See, sodass man sich wie auf einem ausgedehnten literarischen Spaziergang fühlen konnte. Zu den schönsten Lese-Erlebnissen des Fests gehörte der Auftritt des Schweizer Schriftstellers Arno Camenisch, der Passagen aus seiner auf Deutsch und Rätoromanisch verfassten „Bündner Trilogie“ vortrug. Hier konnte man sich am lakonischen Witz und der eigenwilligen Sprachmelodie Camenischs erfreuen. Oder sich dem Klang einer Sprache hingeben, die der Autor als vom Aussterben bedroht sieht.

Ergreifend auch die Lesung David Wagners aus seinem aktuellen Buch „Leben“, für das er in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt – der Preis wird in Zusammenarbeit mit dem LCB verliehen. Wagner stellte vorab noch einmal klar, dass es sich bei „Leben“ zwar um eine Literarisierung von Wirklichkeit handle, die geschilderte Krankheitsgeschichte jedoch die eigene Geschichte sei, für die er eine Form finden musste, um sie überhaupt erzählen zu können. Wobei er neben unter die Haut gehenden Abschnitten durchaus Komisches wie die Beschreibung eines Priapismus im Rollstuhl präsentierte. Der „Literatur-Rave“ endete irgendwann ganz artig in einer Party mit DJs und Discokugel. Die älteren Besucher hatten sich da schon weitgehend verabschiedet, unter den jüngeren zeigte sich die eine oder der andere leicht angeheitert. Wer mochte, blieb noch ein wenig am kühlen Wasser und war dankbar, dass diese „leuchtende Insel“, wie der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon das LCB einst nannte, bis heute erhalten geblieben ist.