Die Schrumpf-Spirale

AUS BERLIN MAURITIUS MUCH

Geografisch liegt der Landkreis Bernburg günstig. Er befindet sich genau zwischen den Großstädten Magdeburg und Halle an der Saale. Zudem hat er einen direkten Anschluss zur Autobahn 14.

Trotzdem haben seine 65.000 Einwohner ein Problem: Sie sind in dem Landkreis zu Hause, für dessen Zukunft es am düstersten in ganz Deutschland aussieht. Das behauptet das bekannte Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in einer gestern vorgestellten Studie über alle 439 Landkreise und kreisfreien Städte. Ihre alarmierende Prognose: „Bis 2020 wird über die Hälfte aller deutschen Kreise von der Schrumpfung betroffen sein“, sagt Hans Fleisch, Vorsitzender des Berlin-Instituts. In Deutschland werde sich ein Schrumpfungskeil von Ostdeutschland bis ins Ruhrgebiet bilden.

So kommen die Wissenschaftler zu dieser Aussage: Die Autoren um Institutsdirektor Reiner Klingholz haben in 22 Kategorien Schulnoten vergeben, darunter in den Punkten Arbeitslosigkeit, Abwanderung sowie Anzahl der Alten und Kinder. Die besten Zensuren bekamen Landkreise in Bayern und Baden-Württemberg. Sieger ist Biberach bei Ulm mit der Note 2,66. Die Verlierer kommen aus Ostdeutschland und dem Ruhrgebiet.

Schlusslicht Bernburg hat einen Durchschnittswert von 4,75. In der Schule wäre die Versetzung akut gefährdet. Der Landkreis hat seit 1990 fast 13.000 Einwohner verloren. Die eine Hälfte wanderte in den Westen ab, weil dort die Arbeitschancen besser sind. Verständlich angesichts einer Arbeitslosigkeit von derzeit 21,2 Prozent. Die andere Hälfte errechnet sich aus dem starken Geburtenrückgang. Nur jeder zehnte Bernburger ist unter 16 Jahren. 1990 war es noch jeder fünfte.

Allen schrumpfenden Regionen ist eines gemeinsam, dass sie gefangen sind in einer Spirale aus Geburtenschwund, Arbeitslosigkeit und Massenabwanderung. Jeder Faktor bedingt den anderen und potenziert ihn. Die Folge: Die Menschen ziehen in wirtschaftlich attraktive Regionen. Das sind die Gebiete um Großstädte vor allem in Süddeutschland. Strukturschwache Regionen haben das Nachsehen: Immer mehr Dörfer verwaisen, in den Städten stehen Wohnungskomplexe leer und riesige Brachflächen entstehen. Sachsen-Anhalt trifft es besonders hart. Bernburg und drei weitere Kreise belegen die letzten vier Plätze in der Studie.

Angesichts der dramatischen Lage schlägt das Berlin-Institut vor, verschiedene Landkreise zusammenzulegen. Der Institutsvorsitzende Hans Fleisch geht noch einen Schritt weiter: „Über kurz oder lang wird man sich überlegen müssen, etwa Sachsen-Anhalt mit anderen Bundesländern zusammenzulegen.“ Sachsen-Anhalt habe einen riesigen Verwaltungsapparat für etwas mehr als zwei Millionen Einwohner. Da gebe es Einsparpotenzial, so Fleisch.

Die Bevölkerungswissenschaftler raten dazu, die Regionalförderung gerade in Ostdeutschland zu überdenken. Weg vom Prinzip, alle Regionen wie mit einer Gießkanne finanziell aufzupäppeln. Stattdessen sollten die Bundesländer wirtschaftlich starke Städte oder Regionen gezielt fördern, dem restlichen Gebiet aber keine Mittel mehr zukommen lassen, sagt Reiner Klingholz vom Berlin-Institut und verweist auf das Beispiel Brandenburg. Dort unterstützt die Landesregierung nur noch sieben Wachstumskerne. Allerdings leisten die Landkreise, die leer ausgehen, erbitterten Widerstand.