DIE ACHSE DES HOUSE VON TIM CASPAR BOEHME
Vollendetes Chicago

Der Zeitpunkt könnte kaum besser gewählt sein. Nach einer Dekade der Dominanz von Minimal House macht sich in der Clubszene seit zwei, drei Jahren eine Nostalgie für Chicago- und Deep House der alten Schule bemerkbar. Auf die radikale Reduktion folgt die Sehnsucht nach großen Gefühlen und Schmutz. Was liegt da näher als ein genauer Blick auf die Klassiker des Genres?

Das niederländische Label Rush Hour Recordings startet daher eine Serie von Reissues aus dem Hause Trax, einem legendären Chicago-House-Label. Zum Auftakt erscheint mit dem einzigen Album des Duos Virgo ein verschollenes Meisterwerk. Eric Lewis und Merwyn Sanders kamen 1989 etwas spät zu Trax – die Plattenfirma hatte ihre besten Tage schon hinter sich –, und ihr Debütalbum wurde nie in ordentlicher Form veröffentlicht. Dabei gehört Virgos House-Vision zum Schönsten, das jemals in Plattenrillen gepresst wurde.

Von Lewis und Sanders als „Songskizzen“ definiert, erreichen ihre Produktionen die perfekte Balance zwischen pumpendem Druck und zurückgenommener Fragilität. Mal futuristisch-bleepig wie auf „In a Vision“, mal düster-melancholisch wie in „School Hall“, verzichten sie weise auf dumpfe Vordergründigkeiten im Namen der Party. Die Kunst des Weglassens beherrschen Virgo genauso souverän wie intelligenten Spannungsaufbau. Ein Klassiker, den man von nun an nicht mehr missen möchte.

■ Virgo: „Virgo“ (Rush Hour)

Feinsinniges Hamburg

Paul Kominek kannte man bisher in erster Linie als den laptopbewehrten Elektronikpop-Innovator Turner. Dabei hatte der Mitgründer des Hamburger Labels Dial schon in den Neunzigern seine Liebe für House und Techno entdeckt, auch wenn dieser Einfluss in seiner Musik eher nebenbei zum Tragen kam.

Als Pawel geht er seiner Neigung nach und veröffentlicht regelmäßig EPs für die Tanzfläche. Mit einem Album hatte er es nicht eilig, erst nach Jahren der vorsichtigen Feilerei entschied er sich dazu, die Welt um einen großen House-Wurf zu bereichern. Pünktlich zum zehnten Geburtstag von Dial legt er jetzt sein Debüt vor, schlicht mit seinem Namen betitelt. Das ist eine der elegantesten House-Platten seit langem und eines der schönsten Alben auf dem an Talenten reich gesätem Label. Pawel gelingt es, die auf Dial vorherrschenden regenverwaschenen und dunkel-hallenden Töne um ein gebrochenes Licht zu bereichern, das zwar kaum merklich heller scheint als bei seinen Mitstreitern Lawrence oder Pantha du Prince und doch einen erkennbar anderen Akzent setzt. Mit großer Feinsinnigkeit lässt er graue Melancholie in silbrig schimmernde Euphorie übergehen, und die Referenzen, die aus seiner Musik herausklingen, erscheinen nicht wie eine historische Bürde, sondern als emphatische Fortführung der Tradition. So vielfältig kann die ewige Wiederkehr des Gleichen sein.

■ Pawel: „Pawel“ (Dial)

Tiefes Tatarstan

Russland steht immer noch etwas abseits der großen Zentren für elektronische Musik. Da ist es schon eine kleine Sensation, wenn ein Produzent wie der 21-jährige Martin Schulte aus Kasan in der Republik Tatarstan innerhalb eines Jahres bereits sein zweites Album vorlegt.

Martin Schulte heißt denn auch mit bürgerlichem Namen Marat Shibaev, knüpft mit seinem teutonischen Pseudonym aber bewusst an Techno aus Berlin an. Erkennbares Vorbild ist der dubbige Techno um das legendäre Label Basic Channel, dessen sinfonische Hall-Ungetüme das Genre einst begründeten. Seit Mitte der Neunziger in verschiedenen Ausprägungen zu hören, erlebt das Genre derzeit eine zweite Blüte.

In diesem Sound geht es nicht um körperliche Direktheit, sondern um Abstandnehmen, ein Sichabkühlenlassen der Klänge im eigenen Echo. Shibaev bewegt sich in seinen Produktionen durch weite Landschaften mit endlos hohem Himmel, erzählt von Winternächten mit froststarrender Kälte und der Tiefe des Meeres. Seine Innovationen beschränken sich zwar auf Nuancen wie minimal zupackendere Beats oder um eine Facette funkelndere Akkorde von weither, doch diese Details sind es, durch die seine Musik so fesselnd wirkt. Sofern Verfeinerung aktuell die maßgebliche Form des Fortschritts im Techno ist, macht Martin Schulte alles richtig.

■ Martin Schulte: „Odysseia“ (Lantern/Plop/Broken Silence)