„Ein repressiver Wind“

Die Zahl verurteilter Minderjähriger im Norden ist rasant gestiegen. Dazu habe eine populistische Rechtspolitik beigetragen, sagt Jochen Goerdeler, Geschäftsführer des Jugendrichter-Verbandes

von Benno Schirrmeister

Die Zahl der verurteilten jugendlichen Straftäter in Hamburg und Schleswig-Holstein ist in den vergangenen zehn Jahren stark gestiegen. Das hat gestern das Statistikamt Nord bekannt gegeben. Während in Hamburg mehr als dreimal so viele Minderjährige schuldig gesprochen wurden, wie 1996, fanden in Schleswig-Holstein 1.466 Jugendliche und Heranwachsende vor ihren Richtern keine Gnade. Nimmt die Jugendkriminalität zu – oder hat sich die Spruchpraxis der Richter geändert? Jochen Goerdeler, Geschäftsführer der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe sorgt für Aufklärung.

taz: Herr Goerdeler, überraschen Sie die Zahlen?

Jochen Goerdeler: Nein. Einerseits, weil die Erhebungen einen Zehn-Jahres-Zeitraum betreffen. Und in der polizeilichen Kriminalstatistik lassen sich in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre starke Anstiege der Verdachtsfälle beobachten – während sich im Dunkelfeld so gut wie nichts bewegt. Da hat sich das Anzeigeverhalten in der Bevölkerung erheblich verändert. Andererseits weht kriminalpolitisch ein ausgesprochen repressiver Wind. Da muss man sich nur die populistischen Vorstöße zur Verschärfung des Jugend-Strafrechts (JGG) anschauen …

Sie meinen Hamburgs Justizsenator Roger Kusch, der das JGG abschaffen wollte?

Ich meine Kusch, aber auch den Herrn Goll von der Rechtsstaatspartei FDP in Baden-Württemberg. Und Hessen und Bayern: Bei den Gesetzesentwürfen, die derzeit teilweise im Bundesrat verhandelt werden, geht es immer um restriktivere Behandlung und das Heraufsetzen der Höchstdauer der Jugendstrafe. Man meint, wie es dann so schön heißt, ‚Grenzen setzen‘ zu müssen.

Allerdings hatte im vergangenen Jahr die Polizei-Statistik aus Hamburg eine Abnahme der Jugendkriminalität verzeichnet. Hat sich auch die Spruchpraxis verändert?

Zunächst einmal fällt der Anstieg der Verurteilungen weitaus geringer aus, als die Zunahme der Verdachtsfälle. Und naturgemäß ist hier die Zunahme zeitverzögert zu beobachten. Aber es ist zu erwarten, dass sich die repressive öffentliche Atmosphäre auch in der richterlichen Spruchpraxis niederschlägt. Die Richter bleiben ja nicht unberührt von der gesellschaftlichen Diskussion. Hinzu kommt, dass Jugenddezernate oft als Durchgangsstationen für Berufsanfänger besetzt werden. Die Richter machen das drei Jahre, dann werden sie zum Beispiel Handelsrichter.

Warum ist das ein Problem?

Das Jugendstrafrecht hat erhebliche Besonderheiten gegenüber dem Allgemeinen Strafrecht. Es ist erzieherisch ausgerichtet. Und deshalb ist es sinnvoll, es in die Hände von Spezialisten zu geben – weil die leichter einen Bezug zu den Einrichtungen der Jugendhilfe aufbauen können. In Hamburg wird das deutlich: dort hat man das früher zentrale Jugendgericht zielgerichtet zerschlagen und seine Aufgaben auf die Amtsgerichte verteilt.

Aber in Flächenstaaten ist es doch auch üblich, JGG-Fälle am normalen Amtsgericht zu verhandeln.

Aber von Jugendrichtern. Es mag allerdings sein, dass es hier und da auch gemischte Dezernate gibt. In Hamburg ist das allerdings besonders augenfällig – weil man dort einmal fortschrittlich war und dann aus dezidiert politischen Gründen diesen Ansatz zerschlagen hat.

Wie verkraftet der Vollzug das Mehr an Verurteilungen?

Höchst schlecht. Die meisten geschlossenen Abteilungen sind überfüllt. Und in die offenen kommt kaum noch jemand. Dabei sind Vollzugslockerungen ungeheuer wichtig, wenn man die Gefangenen an ein straffreies Leben draußen gewöhnen will. Sonst landen die ruckzuck wieder in alten Verstrickungen – trotz positiver Entwicklungen im Knast. Wer die tatsächliche Sicherheit verbessern will, muss liberale Jugendkriminalpolitik betreiben. Und sollte die Diversion fördern, also die Möglichkeit, leichte und mittelschwere Delikte ohne Verurteilung zu erledigen – etwa durch gemeinnützige Arbeit oder andere Jugendhilfeangebote. Aber die Angebote der Jugendhilfe expandieren nicht – sondern sehen sich Mittelkürzungen gegenüber.

Welche Früchte wird diese Politik der Abschreckung tragen?

Früchte? Sie schadet nur: In der Tat, es wird mehr Rückfälle geben, und man wird neue Strafanstalten brauchen, – deren Unterhalt auch wieder viel Geld kosten wird, das an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt werden könnte.