„Alle Türen aufgestoßen“

VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG Andreas Bernards neuer Roman „Vorn“ spielt in der Redaktion eines Jugendmagazins. Diese Welt kennt er gut – von „Jetzt“, wo Bernard Mitte der 90er über Caipitrinker lästerte und über Mixtapes schrieb

Journalist: Jetzt-Magazin (1995–1998), SZ-Feuilleton (1998–2005), SZ-Magazin (seit 2005)

Wissenschaftler: Studium der Neueren Deutschen Literatur, Komparatistik, Deutsche und Vergleichende Volkskunde, Promotion mit einer Arbeit zur „Geschichte des Fahrstuhls“

Schriftsteller: Erzählband „Über das Essen“ (2002), Romandebüt „Vorn“ (2010)

INTERVIEW DAVID DENK

taz: Herr Bernard, wann waren Sie zuletzt brunchen?

Andreas Bernard: Schon lange nicht mehr. Ich war aber auf jeden Fall auch noch brunchen, als ich das Phänomen Brunch schon blöd fand. In Berlin muss man ja notgedrungen brunchen, wenn man am Wochenende vor 15 Uhr was essen will.

„Brunchen“ zu sagen und erst recht brunchen zu gehen, steht auf dem Index der Redaktion des fiktiven Jugendmagazins „Vorn“, das eine zentrale Rolle in Ihrem ersten Roman spielt und deutliche Anleihen der Lebenswelt rund um das Jetzt-Magazin Mitte der 90er trägt.

Stimmt, das kann man schwer leugnen.

Was fanden Sie damals so schlimm am Brunchen?

Wir waren sehr schnell dabei, bestimmte Begriffe mit einer Lebenswelt zu assoziieren, die man entweder begrüßt oder ablehnt. Und das Brunchen war für uns neben Milchkaffee aus Schalen und „Caipis“ das Sinnbild schlechthin für so ein gemütliches Studentenspießertum, mit dem wir nichts zu tun haben wollten. Genau für dieses Schnöselhafte wurde Jetzt aber natürlich auch gehasst.

Wofür Sie in Ihrem Buch durchaus Sympathien durchblicken lassen.

Verständnis.

Warum haben Sie einen Roman über Ihre Zeit bei Jetzt geschrieben?

Ich habe nicht in erster Linie einen Roman über meine Zeit bei Jetzt geschrieben. Dieses Magazin im Roman steht paradigmatisch für eine neue Sphäre, in die der Protagonist durch seinen Eintritt in die Redaktion katapultiert wird. Das könnte genauso auch in einer Anwaltskanzlei oder Werbeagentur spielen, aber ich habe nun mal die Geschichte, die ich habe, und es vorgezogen, über ein Milieu zu schreiben, das ich kenne. Das ist aber letztlich Kulisse, denn im Vordergrund steht für mich der Konflikt zwischen alter und neuer Sphäre im Leben des Protagonisten, und das ist hoffentlich auch für Leser nachvollziehbar, die nichts mit der Medienwelt zu tun haben und deswegen auch keine Bezüge auf eine da gewesene Wirklichkeit herstellen.

Der Held Ihres Romans will unbedingt zu dieser für den Leser manchmal hermetischen Vorn-Welt mit ihren ganzen Codes und Insiderwitzchen dazu gehören, bekommt aber nach einiger Zeit plötzlich das Gefühl, dass er „nicht nur seine Freundin verleumdet hat, sondern auch seine innersten Überzeugungen“, und gerät darüber in eine Lebenskrise. Kennen Sie dieses Gefühl?

Ich glaube schon, dass diese Krise zu den zentralen Stellen des Romans gehört. Deswegen gibt es das Buch. Wenn ich nur etwas hätte feiern wollen, woran ich vor 15 Jahre mitgearbeitet habe, wäre ein Privatdruck für 200 Freunde und Bekannte die bessere Form gewesen. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich könnte so einen Roman doch nicht schreiben, wenn ich zu diesem Problem nichts zu sagen hätte.

Was war das Besondere an Jetzt?

Erst mal das Zusammentreffen von vielen interessanten, vollkommen unterschiedlichen Charakteren: einerseits sehr junge Leute, die ganz vom Pop kamen, dann aber auch Leute mit konventionellem akademischen Hintergrund, die im Heft über Musil oder Walter Benjamin schrieben – und beide Bereiche der Redaktion haben sich füreinander interessiert und ständig voneinander gelernt. Mein damaliger Kollege Nikolaus Albrecht …

später Chefredakteur der deutschen Vanity Fair

… der schon ein bisschen mehr Arbeitserfahrung hatte als die meisten in der Jetzt-Redaktion, meinte immer: „Eins sage ich euch: So einen Arbeitsplatz wie hier werdet ihr nie wieder finden.“ Wir haben ihm natürlich nicht geglaubt. Inhaltlich hat mich sofort fasziniert, dass ich als Autor mein unmittelbares Leben, das, was mich wirklich interessiert hat, fast diaristisch in ein Medium bringen konnte, das dann einer großen Zeitung beiliegt, die 600.000 Menschen lesen. Es war für uns alle, glaube ich, ein beglückendes Gefühl, die alltäglichsten Dinge in so einem extrem öffentlichen Forum verschriftlichen zu können, wie in einem Kollektivtagebuch. Neulich habe ich mich auf der Buchmesse mit jemandem unterhalten, der einen Sammelband über Mixtapes herausgibt und dafür Leute porträtiert, die etwas zu dem Thema zu sagen haben. Innerhalb von Minuten standen gleich wieder so viele interessante Gedanken im Raum, dass man mit dem Notieren gar nicht nachkam. Da habe ich nach Jahren sofort wieder diese Faszination am Jetzt-Kosmos von damals gespürt.

Die auch darauf beruhte, dass man als Autor plötzlich ungeniert „ich“ schreiben durfte, oder?

Ja, solche Texte hatte ich vorher in keinem deutschen Magazin gelesen – außer in Tempo, aber das mochte ich gar nicht so gern, weil es mir oft zu kokainistisch-selbstbezogen war, auch zu leer in seinem ewigen Hedonismus. Komplett neu an Jetzt war es wahrscheinlich, dieses „ich“ mit randständigen Sujets zu verbinden, also etwa über die eigene Band-T-Shirt-Sammlung zu schreiben oder warum man lieber alleine ins Kino geht. Das hat Jetzt für den deutschen Sprachraum erfunden. Plötzlich kamen dann Frauenzeitschriften wie Allegra oder Cosmopolitan an und wollten von Jetzt-Autoren dauernd Texte, die so klingen wie in Jetzt. Das war gut für uns, aber schlecht für diese Schreibweise. In der Endphase des Heftes, so ab 1999, war sie deswegen schon wieder ziemlich verbraucht meines Erachtens. Alleine das Wort „Alltagsbeobachtung“ jagte einem plötzlich einen kalten Schauer über den Rücken. Vielleicht haben das die prägenden Jetzt-Leute später, wie zum Beispiel Timm Klotzek und Michael Ebert …

die heutigen Neon-Chefredakteure …

… auch gesehen und deshalb verstärkt auf Service gesetzt, mit Praktikumstipps und dergleichen. Für die früheren Redakteure war das natürlich ein kleiner Kulturbruch. Ein bisschen salopp könnte man sagen: Das frühe Jetzt wurde eher unter der Schulbank gelesen, das späte vom Lehrer verteilt.

„Vorn“: fiktives Münchner Jugendmagazin in Bernards Roman, bei dem der Protagonist Tobias Lehnert nach seinem Uniabschluss zu arbeiten beginnt. Angezogen von der Begeisterung seiner neuen Kollegen, dringt Tobias immer tiefer in den „Vorn“-Kosmos aus Schumann’s, Helmut-Lang-Anzügen und Popmusik ein – in dem schnell kein Platz mehr für seine langjährige Freundin ist. Bald hat er eine neue, die aussieht wie die Mädchen in „Vorn“. Als diese ihn verlässt, beginnt Tobias, sein neues Leben in Frage zu stellen. ■ Jetzt (1993–2002): wöchentliches Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung. Autoren und Redakteure wie Moritz von Uslar, Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Seidl, Johanna Adorján, Rebecca Casati, Christoph Amend, Matthias Kalle, Timm Klotzek und Alexa Hennig von Lange fanden mit ihrem subjektiven Ton und der Nähe zur Lebenswelt ihrer Leser schnell viele Fans. Im Juli 2002 erschien die letzte Ausgabe mit „3657 Gründen, warum es sich zu leben lohnt“. Legitime Erben des Jetzt-Magazins sind jetzt.de und Neon.

Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit beim SZ-Magazin von der beim Jetzt-Magazin?

Vor allem dadurch, dass ich damals 104 Prozent beim Jetzt war und heute neben meiner journalistischen Arbeit auch wieder andere Dinge mache, die mir wichtig sind. Ich bin damals nach ein paar Jahren Journalismus wieder in die Wissenschaft zurückgegangen und habe meine Doktorarbeit geschrieben. Und ich versuche, wie jetzt auch mit diesem Roman, literarische Texte zu schreiben: ein Impuls, der bei mir eh älter ist als die journalistische Arbeit.

Warum sind aus so vielen Jetzt- Mitarbeitern erfolgreiche Journalisten geworden?

Das weiß ich nicht. Aber es mag etwas damit zu tun haben, dass die Jetzt-Leute mit so viel Begeisterung und Rückenwind in diesen Beruf gestartet sind. Die meisten waren Mitte 20, und die bloße Erwähnung des Hefts, bei dem man arbeitet, hat eine Zeit lang alle Türen aufgestoßen.

Welchen Ratschlag würden Sie sich heute als Jetzt- Redakteur geben?

Vielleicht den, nicht alles so ernst zu nehmen – auch das Jetzt-Magazin nicht.

Damit es nicht wie eine Binse klingt: Was meinen Sie genau?

Das ist ja die Geschichte des Romans: Wenn Tobias, die Hauptfigur, die Gruppenbildungsprozesse, dieses radikale Definieren über Musik- und Modegeschmack nicht so ernst nehmen würde, hätte er sich jene Souveränität bewahrt, deren Verlust ihm im Roman zeitweise zu schaffen macht.