Blickdicht abgeschottet

NACHKRIEG Die Spuren, die das Leben hinterlässt: Harriet Köhler erzählt eine Familiengeschichte

Erst versucht die Mutter, dann der Sohn, dem Vater ein intaktes Leben herbeizuputzen

VON WIEBKE POROMBKA

Wenn ein Buch mit einem vermeintlichen Ende beginnt, dann ahnt man, dass noch etwas kommen wird. Ein alter Mann, über neunzig ist er, sitzt am Sterbebett seiner Frau und lauscht dem leisen Piepen des EKGs. Nicht nur eine traurige, auch eine unheilvolle Situation ist das bei der 33-jährigen Schriftstellerin Harriet Köhler, denn neben dem Schmerz über den nahen Verlust gelingt es Walther nur mit Mühe, seine immer wieder anschwellende Aggression gegen die Sterbende zu unterdrücken.

Von den Tagen und Wochen nach Grethes Tod, in denen sich der gemeinsame Sohn Jürgen um den nun selbst rapide pflegebedürftiger werdenden Walther kümmert, erzählt Köhler in ihrem zweiten Roman, „Und dann diese Stille“. Wenn plötzlich derjenige fehlt, mit dem man sechzig Jahre lang jeden Morgen gemeinsam aufgestanden ist, geraten die Dinge in Bewegung. Während sein Körper mehr und mehr dem Siechtum verfällt, fängt der alte Mann nun an, sich an das zu erinnern, was die Routine des Alltags jahrelang verborgen hat.

Aus Rückblicken und einzelnen Episoden, die Walther mehr zufallen als bewusst memoriert werden, setzt Köhler eine Familiengeschichte zusammen, deren Dramaturgie die Historie des 20. Jahrhunderts vorgegeben hat. Walther war Soldat im Zweiten Weltkrieg, erfährt man, erst als Spätheimkehrer kam er aus sowjetischer Gefangenschaft zurück in das ostdeutsche Wellersdorf. Aber die Fremdheit, die zehn Jahre Abwesenheit und der Krieg in der Familie hinterlassen haben, will sich nicht mehr geben. Die gemeinsame Flucht in den Westteil Deutschlands Ende der Sechzigerjahre ist Walthers Versuch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und noch einmal von vorn zu beginnen. Dass es aber kein Entkommen gibt vor den Traumata des „Dritten Reiches“ und des Krieges, darauf verweist schon die – arg symbolisch geratene – Adresse der vermeintlichen Einfamilienhausidylle in der kleinen hessischen Ortschaft Ebersbach, in die es die Familie verschlägt: Wolfsweg 18.

Sehr symbolträchtig ist auch das Bild, das sich als unausgesprochene Moral durch dieses Buch zieht: Das Haus ist verborgen hinter Efeu, der die Fassade hat mürbe werden lassen. Innen hat Grethe es stets penibel sauber gehalten, keinen Fleck, keinen Kratzer zugelassen, und so hat sie verhindert, „dass das Leben seine Spuren hinterließ“, weder das gegenwärtige noch das vergangene.

Selbst wenn sich Walther über Jahre hinweg nachts schreiend in Albträumen wälzte, war das kein Anlass, über das im Krieg Erlebte zu sprechen. Mehr noch: Wo es auch nur einen Versuch dazu gab, wurde er von Grethe fortgewischt, so wie jeder Streifen auf den Fenstern und Möbeln. „Die Unfähigkeit zu trauern“ nannten die beiden Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich die mentale und emotionale Schreckstarre, die weite Teile der Deutschen nach dem Nationalsozialismus erfasste. Bei Köhler hat diese in der alten BRD zum Schlagwort avancierte sozialpsychiatrische Formel bis in die – verkümmerte – Körperlichkeit der Protagonisten übergegriffen. Die Unfähigkeit, zu trauern, geht einher mit der Unfähigkeit, zu lieben.

Zeug zum Tragischen

Eine exemplarische Geschichte erzählt Köhler mit ihrem Roman und eine dazu, die das Zeug zum tragischen Kammerspiel hat. Jürgen, selbst bereits im Rentenalter, versucht, das Leben in seinem Elternhaus aufrechtzuerhalten, kann aber die Distanz zu seinem Vater nicht überwinden und fängt nun seinerseits an, ein intaktes Leben herbeiputzen zu wollen. Die Geschichte hat aber eben nur das Zeug zum Tragischen. Vermutlich liegt es gerade daran, dass Köhlers Geschichte zu reibungslos konstruiert ist und sich allzu passgenau in ein exemplarisches Muster fügen will, dass sie einen erstaunlich wenig ergreift.

Dass sich eine 1977 geborene Autorin in einen 95-jährigen Weltkriegsheimkehrer und späteren Automechaniker hineinversetzt, dieses Experiment hätte man gern weiterverfolgt. Aber am Ende scheint es doch eher Ruth, die Freundin des Enkels, zu sein, in der sich Köhlers Position spiegelt. Ebenso wie diese gehört sie einer Generation an, die im Wohlstandsmilieu der BRD aufgewachsen ist und die weder die unmittelbaren noch die mittelbaren Auswirkungen des Krieges erlebt hat. Jetzt, wo die Generation der Kriegsteilnehmer stirbt, weiß sie, dass es die letzte Möglichkeit ist, Fragen zu stellen. Vermutlich liegt es in der Natur der Sache, dass man dabei über die Stereotype von verdrängter Schuld und verdrängtem Leid kaum hinausgelangen kann. Es sei ein alter Irrglaube, dass Efeu die Fassaden kaputt mache, heißt es gegen Ende. Jedenfalls kann er sie offenbar nicht so stark zerstören, dass man wirklich dahinterschauen könnte.

Harriet Köhler: „Und dann diese Stille“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 320 Seiten, 19,95 Euro