Ort für Bleibkundschaft

Im Berliner Bezirk Neukölln sind die Grenzen klar abgesteckt: Hier die Cafés für die türkischen Männer, da die Eckkneipen für die deutschen. Doch das Bedürfnis nach Zigaretten, Süßigkeiten und Alkohol eint. Auch die Frauen. In der „Tabak- und Getränkeoase“ kommt man zusammen

AUS NEUKÖLLN NATALIE TENBERG

„Ich spreche alle mit Namen an“, erklärt Gökhan Kișmir die Philosophie seiner Geschäftsführung. „Viele meiner Kunden sind Leute, denen die Gesellschaft keinen Wert gibt. Sie sind arbeitslos, sehen nicht toll aus und sind arm. Wenn ich sie mit ihrem Namen anspreche, dann gebe ich ihnen das Gefühl, einen Wert zu haben, weil ich sie respektiere.“ Er steckt sich eine Zigarette an. „Und das tue ich.“

Kișmir inhaliert, lächelt und bläst den Rauch aus. Die Ladentheke vor ihm, eine drei Meter lange Glasvitrine, ist voll gestopft mit Zippo-Feuerzeugen und Porzellanfiguren. Hinter ihm türmen sich Zigaretten, fein sortiert, mehrere Reihen Schnaps, Wein und Raki verdecken die Wand. In einem Plastikfach liegt Börek neben Schrippen. Die Vielfalt an Materialien, die für die Einrichtung benutzt wurden, hinterlässt den Eindruck von Durcheinander.

Das hier ist kein durchdesignter Lifestyleshop. Das hier ist die „Tabak- und Getränkeoase“, hundertzwanzig Quadratmeter Ladenfläche in der Weichselstraße in Berlin-Neukölln. Inhaber: Gökhan Kișmir, 25.

Es ist acht, und es riecht bereits nach Zigaretten. Qualm kringelt sich im Sonnenlicht. Im vorderen der beiden Verkaufsräume stehen die Regale für Zeitungen und Zeitschriften, Kekse und Schokolade. Rechts in der Ecke gibt es Kaffee aus einer großen Thermoskanne für fünfzig Cent pro Plastikbecher. Lottoscheine können hier ausgefüllt und abgegeben werden. Käse, Wurst und Oliven, einzelne Briefumschläge, Kopien aus einem Uraltgerät und Kaugummis, das alles gibt es hier zu kaufen. Der einzige Stehtisch, zwischen Magazinregal und Cola-Kühlschrank, ist meistens von Stammgästen besetzt.

Alkohol darf vorne nicht getrunken werden. „Wegen der Kinder, weißt du?“, erklärt Kișmir. „Wenn einer hinten trinken möchte, dann ist das okay“, so Kișmirs eigenes Gesetz. Er hebt die Hände und wiegt seinen großen und außergewöhnlich runden Kopf. Soll wirklich heißen: Was kann man nur dagegen machen? Doch die Kinder in diesem Kiez, die sollen nicht bei jedem Süßigkeitenkauf ein schlechtes Beispiel vor Augen haben. Im hinteren Raum lässt ein vergittertes Fenster zum dunklen Innenhof des Altbaus durchblicken. Hier stehen vier Telefonkabinen, jede verschließbar und mit einem Aschenbecher ausgestattet. An der Wand entlang reihen sich Milchkartons neben Sprudel- und Saftflaschen, Toilettenpapier neben Konserven. Es ist das Sortiment der Notwendigkeiten, der Produkte, auf die man nicht verzichten kann, auch wenn die Supermärkte schon geschlossen haben.

Der Schirm von Kișmirs Baseballmütze ist weit zurückgeschoben, gibt den Blick auf seine hellen Augen frei, die eher erwartungsvoll als wachsam zum Eingang und raus auf die Straße hinter der geöffneten Ladentür schauen. Er ist etwa eins achtzig groß, trägt Turnschuhe, Jeans und ein helles Sweatshirt.

Es ist halb elf Uhr morgens, und Kișmir weiß, dass er noch den ganzen Tag hier verbringen wird, und den nächsten. Und wenn alles glatt läuft, auch die kommenden Jahre. Und jeder Tag wird ein wenig wie der andere sein. Gökhan Kișmir ist Neuköllner. Hier an der Weichselstraße ist er aufgewachsen, hier kennt er jeden. Das ist seine Welt.

Dabei sah die Zukunft für Kișmir noch vor zwei Jahren genau so finster aus wie die vieler seiner Freunde. Er war arbeitslos, hatte nach seiner Lehre als Elektroinstallateur keine Stelle gefunden. Aber er hatte Unterstützung. Nicht vom Staat und nicht von der Stadt, sondern von seinen Eltern. Ohne sie wäre Kișmir vielleicht ein weiterer junger Mann, der durch die Straßen Neuköllns streift.

Es begann, als das Ladenlokal eines Tages leer stand. Das andere, alteingesessene Allzweckgeschäft zwei Altbauhäuser weiter schloss, und Kișmir kam die Idee, hier sein Geschäft zu eröffnen. Frei sein, selbstständig, auf sich gestellt – vor allem immer einen Blick auf die Straße haben und sehen, was los ist in seinem Kiez, der so oft schlecht von sich reden macht. Neukölln ist nicht gerade als das Prominentenviertel Berlins bekannt. Hier wohnen arme Deutsche, Migrantenfamilien mit vielen Kindern und Enkelkindern.

Das Leben hier hat schöne Seiten, eine Vertrautheit, die aus engen Wohnverhältnissen entsteht, aber auch seine tiefen Abgründe. Man kennt das Alkoholproblem der Nachbarn, ihre Gewaltexzesse und ihre ewigen Ausreden. Obwohl ein Spezialbericht der Senatsverwaltung Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz Neukölln noch als Problembezirk darstellt, sieht Ilse Wolters vom Quartiersmanagement Reuterplatz positive Impulse für die Gegend um die Weichselstraße. Mehr Menschen ziehen wieder nach Neukölln, kann sie berichten. „Das sind junge Leute, Mittelschichtleute, für die die Nähe zur Stadtmitte ausschlaggebend ist“, sagt sie. „Sie finden hier ein zunehmend interessantes kulturelles Angebot vor.“

Trotzdem, die neuerliche Bürgerlichkeit sieht man der Weichselstraße um den Kiosk herum noch nicht an. An einem Ende der Straße rauscht der Verkehr über die Sonnenallee, am anderen Ende brummt die Karl-Marx-Straße. Die fünfhundert Meter dazwischen werden von der Donaustraße gekreuzt. Es ist hier erstaunlich ruhig. Die Fahrbahn und der Gehweg sind kopfsteingepflastert. Nicht der Idylle wegen, sondern weil sie nie gründlich erneuert wurden. Alle paar Meter ist ein Stück asphaltiert, repariert. Keine neuen Golfs stehen am Bordstein, sondern Renaults und Opel der älteren Generation. An den Häuserzeilen bröckelt die Farbe von den Fassaden, auf einigen Balkonen stehen Blumentöpfe, in einem steckt ein buntes Windrad. Die Geschäftswelt ist auf Menschen eingestellt, die arm sind: Rudis Resterampe, ein Trödelladen, eine Snackbar. Eine soziale Bücherstube und ein Gesprächscafé für Senioren, beide werden von ABM-Kräften betrieben. Dazwischen ein Friseur. An der Ecke zur Donaustraße steht die Kneipen Donau-Eck gegenüber vom türkischen Kulturverein, eine Berliner Eckkneipe gegenüber vom türkischen Supermarkt. Die Grenzen sind hier klar abgesteckt, nach Geschlecht, nach Herkunft.

Zu Kișmir aber kommen alle. Morgens und mittags sind die Wege von Schülern verstopft, die in die Rixdorfer Grundschule gehen. Auch sie kommen gerne zu Kișmir, nicht nur weil er ihnen Süßes verkauft. Merita und Aysel aus der sechsten Klasse finden, dass Kișmir „ein netter junger Mann“ sei. Robin, ein Sportstudent, der sich auf dem Weg zur U-Bahn an den Schülern vorbeiquetscht, kann an Kișmirs Laden aber nichts finden. „Da stehen mir zu viele Suffköppe rum“, sagt er und fügt nachdenklich hinzu, „vielleicht spiegelt das ja auch den Kiez wider.“ Das Klischee vom arbeitslosen Türken und saufenden Deutschen, bewahrheitet sich doch ab und zu in dieser Nachbarschaft, aber oft genug auch nicht.

Kișmir beurteilt die Lage strenger. „Ganz ehrlich“, er zieht die Stirn in Falten und kratzt sich mit der Hand am Stoppelbart, „die meisten meiner Freunde sind arbeitslos, bestimmt neunzig Prozent. Aber ich wollte nicht arbeitslos sein.“ Er sagt es mit einer Vehemenz, die ahnen lässt, wie sehr er mit seinem Schicksal haderte, bevor er den Kiosk eröffnete. Er habe von einem anderen Leben geträumt als dem eines Ladenbesitzers, einem, in dem man lange schlafen kann und den Tag mit Freunden verbringt. Aber wenn das wegen Geldmangel nicht möglich ist und man dem Staat auch nicht auf der Tasche liegen will, dann ist eben die Existenz als Geschäftsführer einer Getränkeoase das Nächstbessere, findet er.

Ohne seine Mutter hätte das alles aber nicht geklappt. Sie hat die harten Frühschichten übernommen. Morgens um fünf schließt sie den Laden auf, hat vorher schon bei der Bäckerei die Brötchen gekauft und richtet sich auf den Tag ein. Einsam ist ihre Arbeit nur in den ganz frühen Morgenstunden. Jeden Tag gegen acht kommen zwei Freundinnen zu einem Plausch vorbei. Sie bringen vorher ihre Kinder in die Schule, und die Zeit bei Yeter Kișmir, die ist ihnen wertvoll. Dann können die drei zusammensitzen, rauchen und ihr Herz ausschütten. Die Söhne der Freundinnen, beide in der vierten Klasse, sind gerade im Wrestling-Fieber, ein immer wiederkehrendes Thema, das viel Leid bereitet. „Dieses Wrestling“, seufzen sie, „das macht uns noch ganz verrückt!“ Hin und her in der Erörterung geht es dann, immer wieder steht Yeter Kișmir zwischendurch auf, um ein Päckchen Zigaretten oder eine Cola über die Ladentheke zu schieben. Ihr älterer Sohn studiert Maschinenbau, und Gökhan schlägt sich auch gut, Frau Kișmir muss sich um die Jungs nicht mehr sorgen. „Ja“, sagt sie, als die beiden weg sind, und ihre dunklen Augen leuchten. „Das ist schön. Freundinnen.“

Eine alte Dame, grauhaarig, mit Krückstock kommt in den Laden. Sie nimmt ihre Zeitung, legt das Geld auf den Tresen, ruft: „Ick wünsch Ihnen was“, und macht sich davon. Der Cola-Kühlschrank in der Ecke brummt bedrohlich. „Erst aussuchen, dann öffnen“, steht darauf, eine Warnung, die man bei dem Lärmpegel ernst nehmen sollte. Zwei Schüler drucksen vor dem Süßigkeitenregal herum, wägen ihre Entscheidung ab, besprechen sie miteinander und kaufen dann für fünfzig Cent Gummischlangen. „Das ist aber neu hier“, kommentieren sie ein Regal. Es erregt deutlich ihr Missfallen, dass ihre kleine Welt verändert wurde. „Ja. Neu“, sagt Yeter Kișmir und zwinkert den Jungen zu.

Yeter Kișmir hat kurze, dunkle Haare und ein rundliches, ebenmäßiges Gesicht, ist klein, aber klettert athletisch die Leiter hoch, wenn ein Kunde nach Filtern fragt, die ganz oben liegen. Sie wohnt seit über dreißig Jahren in Berlin, ihr Mann arbeitet schon ebenso lange in einer Fabrik hier. Sie spricht gut Deutsch, wenn auch mit einem leichten Akzent, aber mit einem großen Vokabular. Ihre Familie in der Türkei wohnt in Ostanatolien, und Yeter Kișmir hat Sehnsucht nach der Heimat. Die Deutschen waren in der Vergangenheit oft feindselig gegen sie, haben sie als „Scheißtürkin“ beschimpft. Schmerz schwingt in der Erzählung mit.

Einen alten Bekannten hat Gökhan Kișmir mit seinem Geschäft schon glücklich gemacht. Für Michael, um die vierzig, ist der Laden eine zweite Heimat. Sein ruppiges Äußeres, das verhärmte Gesicht, die blutunterlaufenen Augen, das abstehende, verblasste Haar, bildet einen scharfen Kontrast zu seiner sanften Art, zu sprechen – leise und vorsichtig, als könne ihm jedes Wort im Mund herumgedreht werden. Michael trinkt schon morgens Bier, Marke Pilsator. Er ist täglich hier, und genau wie Kișmir hat er sein ganzes Leben in diesem Kiez verbracht, ein Leben, das, wie man ihm ansieht, nicht immer leicht gewesen ist. Er ist arbeitslos, äußert keine Hoffnung mehr, dass sich die Lage für ihn ändern könnte. „Ick hab janz lang hier im Kiez gewohnt, aber nie andere Nationen kennen gelernt. Jetzt durch Gökhan kenne ich sie alle.“ Türken, Albaner oder Italiener, nichts ist Michael fremd. Kreuzberg aber, das nur einige Straßen weiter beginnt, schon. „Wenn du da in die Kneipe gehst, da gucken dich schon alle komisch an“, findet er, und deshalb bleibt er am liebsten in Neukölln in der Trinkoase.

Ein Luftzug weht ins Geschäft, das Mobile mit der Werbung einer Boulevardzeitung kommt in Bewegung. Anne von nebenan bringt ihr Leergut. Wie jeden Tag. „Hallo, mein Mäuschen!“, ruft Kișmir. Wieder eine von Gökhans Respektbekundungen. Eine, die Anne offensichtlich gefällt. Sie stellt ihre leeren Bierflaschen in den Kasten und streitet kokett Kișmirs „Gut siehst du heute aus“ ab. Tatsächlich ist Anne dünn, nicht modisch schlank, sondern klapprig, und ihre Augen sind geschwollen. „Ist mal wieder spät geworden“, sagt sie und verlangt nach einer Flasche Schnaps. „Aber du hast doch gestern erst eine geholt“, mahnt Kișmir, und Anne behauptet, sie habe Besuch gehabt, der ihr alles weggetrunken hat. „Hier, mein Mäuschen.“ Kișmir gibt ihr die Flasche.

Als sich die Tür geschlossen hat, erklärt Kișmir, dass Anne täglich in den Laden kommt und sich Nachschub besorgt. „Oft verkaufe ich ihr nichts. Weißt du, es geht nicht nur um Profit. Man hat hier Verantwortung“, sagt Kișmir. Er zieht sein Handy aus der Hosentasche, fingert im Menü herum und drückt auf Play. Im Display erscheint eine heulende, völlig desolate Anne. Zwischen ihren Schluchzern verlangt sie nach Bier, was Kișmir aus dem Off ablehnt. Einige Minuten geht es hin und her. „Da siehst du“, sagt Göhkan. „Heute war sie gut drauf. Aber was soll man da machen.“ Hinter Kișmirs freundlicher Art steckt kein gleichgültiger Frohsinn.

„Achtung! Das ist ein Überfall!“, ruft ein Mann ins Geschäft, doch keiner zuckt zusammen. Stattdessen antwortet Kișmir: „Hallo Manfred!“ – „Der kann dir alles über Neukölln und diese Gegend erzählen“, wird mir versprochen, und Manfred, blond, schütteres Haar, klein und drahtig, legt auch gleich los. „Ich bin ein echter Neuköllner!“, behauptet er stolz und fährt mit einer Hand über seinen Schnurrbart. Ein Finger fehlt. „Habe hier schon alles mitgemacht, kenne jeden, und jeder kennt mich.“ Er erzählt, dass er vor zweiunddreißig Jahren nach Berlin kam. Er nimmt einen Kaffee, eine Tafel Schokolade und lacht laut. Kișmir lacht mit, sagt aber gleich: „Manchmal liebe ich ihn, manchmal hasse ich ihn. Jetzt gerade liebe ich ihn.“ Kișmir verschweigt, dass er Manfred das Leben gerettet hat, als dieser nachts betrunken auf dem Gehweg lag. Er brachte ihn ins Krankenhaus und nahm im das Versprechen ab, nicht mehr zu trinken.

Einige Wochen ist das her, Kișmir beobachtet den Fortschritt in Manfreds Leben, sagt aber nichts, lässt ihn selbst reden. Und wie der redet: Von seiner Zeit, als er erfolgreich im Vertrieb arbeitete, davon, dass er nach Berlin kam, eine Frau kennen lernte, heiratete und eine Tochter bekam, abdriftete und in Abrisshäusern zwischen Ratten schlief. Von seiner Alkoholsucht aber spricht er, als läge das Jahrzehnte zurück. Einen älteren Mann, der penibel korrekt gekleidet mit einem kleinen Hund an der Leine den Laden betritt, begrüßt er mit „Herr Direktor“. Der Mann kennt ihn, natürlich, und nickt und murmelt eine Begrüßung. Manfred steht nicht am Tisch, er hängt darüber. „Ich habe so viele Sachen, oooohhhh. Boutiqueware, ganz viel. Markenprodukte. Wenn du was brauchst, ich verkaufe das Zeug“, verspricht er. Woher es stammt, das will Manfred, der von der Stütze lebt, nicht sagen. „Ich bin ein Schwabe durch und durch. Immer auf der Suche nach einem Geschäft!“, fügt er hinzu. Aus der Hintertasche seiner Jeans ragen Schraubenzieher und eine Zange. Eilige Kunden kommen und gehen, greifen sich eine Zeitung, kaufen eine Packung Zigaretten, ohne viel zu sagen. „Man muss wenigstens Hallo sagen, wenn man zu mir kommt“, findet Kișmir.

Wieder kommt eilige Laufkundschaft. Gökhan Kișmir erklärt mir, wie die Kasse funktioniert. Es ist ruhig geworden. Zwei südländische Männer betreten das Geschäft. Sie tragen beide schwarze Anzüge. Kișmir begrüßt sie enthusiastisch. „Mein Cousin Kemal. Aus Paris“, ruft er mir zu. „Ach, Paris!“, sage ich, meine aber: „Wie? Nicht ‚Pulp Fiction‘?“ Irgendwie sehen sie so aus.

Der Cousin betreibt nun ein Restaurant in Kreuzberg und ein Möbelgeschäft. Sein Telefon klingelt die ganze Zeit, immer wieder geht er zum Telefonieren ins Hinterzimmer. „Der ist nett!“, muntert mich Kișmir nach dem kurzen Besuch auf. „Hattest du echt Angst vor meinem Cousin?“ Er kann es nicht glauben. Kișmir hat keine Angst. Vor niemandem. Auch nicht davor, dass sein Laden überfallen werden könnte, wie der andere nebenan. „Ich sag mal, wer mich überfällt, der ist selbst schuld“, sagt er und lächelt süffisant. Der Laden ist jetzt leer, es ist gegen vier Uhr, es sind schon seit einigen Minuten keine Kunden mehr gekommen. Kișmir stellt sich in die Tür und beobachtet die Straße, winkt zu seinen Freunden rüber, sieht einen Bekannten und zerrt ihn zum Teetrinken ins Geschäft. „Der kommt aus Albanien.“ Der Albaner ist um die dreißig und hat derbe Gesichtszüge. „Ich habe lange gearbeitet an der Ostsee. Jetzt Pause. Und nach Ramadan wieder arbeiten“, sagt er leise über das Teeglas hinweg. „Pause?“ – „Ja, für Ramadan. Ist schwierig in Restaurant sonst.“ Die nächste Erinnerung an den Ramadan kommt prompt von Kișmirs Mutter, die gerade zurückgekehrt ist. „Sag ihm, er soll auch Ramadan machen“, fordert sie den Albaner auf Deutsch auf. Der nickt bereitwillig.

Nun, da Mutter Kișmir wieder im Geschäft ist, kann der Sohn raus. „Ich kann nicht sagen, ich bin selbstständig. Ich bin nicht frei. Ich muss immer hier bleiben“, hat er vorher erklärt. Jetzt spurtet er raus, so schnell er kann, und bleibt eine Stunde weg – nach Hause zum Essen.

Eine kleine, faltige alte Frau, Kopftuch, langer Rock, weiße Socken in den Sandalen, spricht kurz mit Yeter Kișmir und geht in eine Telefonkabine. „Sie hat Sehnsucht. Nach ihrem Mann. Er ist in der Türkei“, erklärt Frau Kișmir. Bis Gökhan wiederkommt, hat sich der Laden plötzlich in ein Meer der Weiblichkeit verwandelt. Kleine Mädchen kommen rein, sprechen mit Yeter Kișmir, junge Frauen, schwanger, kommen auch. Die meisten davon Türkinnen. Die deutschen Frauen, die in diese Runde einbrechen, verschwinden schnell wieder, nachdem sie ihre Waren erhalten haben. Yeter Kișmir mag ihre Arbeit im Laden, mag die Beziehungen, die sie dadurch mit der Nachbarschaft aufgebaut hat. „Es ist eine gute Nachbarschaft“, sagt sie. „Sonst wäre wir nicht mehr hier.“ Früher waren die Menschen hier feindlicher den Ausländern gegenüber, das hat sich, findet sie, im Laufe der Jahre verändert.

Yeter Kișmir ist sehr stolz auf ihren jüngeren Sohn, der seine Arbeit macht, Geld verdient und beliebt bei den Nachbarn ist. Dabei bedenkt sie nicht, dass ihre Arbeit ein gewichtiger Teil dessen ist, was den Laden ausmacht, was dem Geschäft und der Straße ein Herz gibt. Sie hat Gökhan unterstützt, sie hilft ihm auch heute. Im Kiosk ist er zwar der Boss, aber wohnen, das tut er auch mit 25 noch zu Hause. Lange noch, hofft sie. „Das wünscht sich doch jede Mutter!“

NATALIE TENBERG, Jahrgang 1976, lebt in Berlin-Charlottenburg. Seit sie Nichtraucherin ist, kauft sie am Kiosk am liebsten saure Pommes