Die Schönheit Bollerups

Der schweigsame Siegfried Lenz hat der Literatur mit dem schweigsamen Bollerup einen außerordentlichen Ort geschenkt. Eine Würdigung zum 80.

„Ein Hanseat nimmt keinen Orden an. Es sei denn, er hätte jemanden vorm Ertrinken gerettet“

von FRIEDERIKE GRÄFF

Die Menschen in Bollerup sind schweigsam. Leidenschaftlich verschwiegen. Nicht aus Sturheit. Sondern weil sie nur dann sprechen, wenn es notwenig ist.

Wenn Siegfried Lenz eines seiner seltenen Interviews gibt, dann sagt er, dass er sich auf das Wesentliche beschränken möchte. Und dass er dem Leser gegenüber nicht unhöflich sein will. Er nennt diese Zurückhaltung „masurische Höflichkeit“. Masuren, dort ist Lenz geboren und dort liegt seine zweite literarische Heimat, wenn man einmal von den Romanen absieht: Suleyken. Siegfried Lenz verbindet die Bollerup‘sche Schweigsamkeit mit der masurischen Höflichkeit. Als 1979 Heinrich Böll, Günter Grass und ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen werden sollte, verwiesen Böll und Grass auf politische Missstände und lehnten ab. Lenz sagte: „Ein Hanseat nimmt keinen Orden an, es sei denn, er hätte jemanden vor dem Ertrinken gerettet.“ Dennoch hat man ihn weiter geehrt und mit einem Pathos gewürdigt, das ihm selbst vollständig fremd ist. Es gibt kaum einen Glückwunsch zu seinem 80. Geburtstag, der nicht seine Höflichkeit rühmt, seine Zuverlässigkeit, die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. Gelegentlich klingt dabei an, dass es altmodische Tugenden seien, die heute nicht mehr hoch im Kurs stünden. Es ist nicht immer klar, ob diese Laudatoren den Menschen Siegfried Lenz so ausführlich loben, weil sie ungern über seine Texte schreiben.

Dessen ungeachtet lassen die Leser nicht davon ab, seine Bücher zu kaufen. So zahlreich, dass er einer der neun Autoren ist, die man in der Branche als „absoluten Bestsellerautor“ führt.

Die meisten Leser verbinden Lenz mit dem millionenfach verkauften und rasch zur Schullektüre kanonisierten Roman „Deutschstunde“ – eine literarische Annäherung an jene Pflichterfüller, die den Nationalsozialismus willig als neuen Dienstherren akzeptierten. Wo es heißt, dass einer einen Tick bekommt, „weil alle einen Tick bekommen, die nur ihre Pflicht tun wollen“. Schon damals schwingt in den Kritiken die sonderbare Mischung aus Respekt, Zuneigung und fast unwillig vorgetragener Beanstandung mit, die später immer wieder zu hören ist. Die Kritik schreibt von der „Aufrichtigkeit der Gesinnung“ des Autors, aber sie vermisst eine psychologische Deutung der Charaktere.

Bei den Bollerupern und den Suleykern wäre mit einer psychologischen Deutung wenig gewonnen. Ihre Geld- oder Eheprobleme haben keine existenzielle Dimension. Es sind Figuren, die auf wenige Eigenschaften reduziert sind, die sie, wie ihre Verwandten bei Isaac Singer oder Josef Roth um so einprägsamer machen. Sie sind leidenschaftlich verschwiegen.

Seine Wahl war auf eine gewisse Elke Brummel gefallen, eine zarte, aber zähe Person, die beliebt war wgen ihrer Fähigkeit, Unterhaltungen wortlos zu bestreiten, alles Wesentliche durch Nicken zu sagen („Hintergründe einer Hochzeit“). Sie sind versponnen: Dieser Streit kam herein auf den kolossalen Füßen des Valentin Zoppek, eines Flußfischers, der außer Aalen, Welsen und Barschen auch allerhand sonderbare Gedanken fing („Der rasende Schuster“).

Dabei soll Bollerup in all seiner Zeitenthobenheit kein „vergessenes Dorf“ sein, wie Lenz 1975 in seinem Vorwort zu den Geschichten betont.

Es liegt weder im Rücken der Geschichte noch in der geographischen Abgeschiedenheit, die der Idylle bekömmlich ist. Es ist ein Dorf, von heute: offen, erreichbar, von reisenden Vertretern erobert, von Versandhäusern generalstabsmäßig mit dem letzten Wunschkatalog bedient … Dennoch: von einer vollkommenen Angleichung kann man nicht sprechen. Es gibt etwas in Bollerup, das nur ihm und – in der Verlängerung – dem Land gehört: eine eigentümliche Erlebnisfähigkeit und eine spezifische Art, auf Erlebtes zu reagieren.

Natürlich erklärt Lenz in seiner masurischen Höflichkeit nicht, worin diese spezifische Art liegt. Er beschreibt sie einfach, in einem beiläufig ironischen Ton, der von zeitloser Grazie ist. Diese Geschichten kommen in einer erstaunlichen Gleichzeitigkeit schlicht und doch verspielt daher. Einer Kombination, der sich nicht einmal die Kritiker entziehen können, die darin raffinierte Einfachheit fanden und eine Unbefangenheit des humoristischen Erzählens, wie es in der deutschen Nachkriegsliteratur selten zu finden sei.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die erste Biographie zu Lenz, gerade erschienen, von seinem Nachbarn aus Tetenhusen stammt. Vielleicht muss man sich die Annäherung des Autors an den zurückhaltenden Lenz vorstellen wie die des unermüdlichen Fischverkäufers Thorsten Feddersen.

Musste man an sich schon die Ausdauer der Bolleruper loben, niemand hier war ausdauernder als dieser finstere Thorsten Feddersen, der einfach nichts verloren gab, bevor es nicht unwiderruflich verloren war („Frische Fische“).

Die Biographie trägt den vorsichtigen Untertitel „Eine biographische Annäherung“ und beschreibt, dass Lenz viele seiner Sätze mit „ach ja“ beendet. Und dieses „Ach ja“ ist wieder eine Spur nach Bollerup zu Lauritz Feddersens Knecht Ingo, genannt die „Ebbe“, der, wenn er traurig ist, seine Sätze mit „Ach ja“ beendet.

Es gibt ein Interview mit dem Spiegel, das an einer Stelle eine ähnliche Heiterkeit entfaltet. Darin wird Lenz gefragt, warum er es in seinen Liebesgeschichten an der Deutlichkeit eines Houellebecq fehlen lasse. Mit ähnlichem Erfolg hätte man ihn fragen können, warum er es an der Gewalttätigkeit eines Brett Easton Ellis fehlen lasse. Lenz antwortet mit der ihm eigenen gelassenen Freundlichkeit: „Natürlich hätte ich die Möglichkeit gehabt, Henry und Paula ins Bett zu schicken. Für mich hat das zu wenig Beweisqualität“.

All diesen Fragen ist eine sympathische Besorgtheit anzumerken, den Autor Lenz doch in die Gegenwart zu retten. Thomas Steinfeld würdigt ihn in der Süddeutschen Zeitung als „Meister des mittleren Trostes“ und versucht über die Idee der individuellen Verantwortlichkeit, die er in der „Deutschstunde“ findet, eine Brücke in die Gegenwart zu bauen. Das mag für die Romane gelten. Die Bolleruper – und auch die Suleyker – brauchen keine Brücken. Sie sind ausreichend gut zu Fuß.