Gute Freunde meinen es nicht so

Von wegen „Urenkel des Nihilismus“! Süchtig nach Zuordnung sind alle in Roger Vontobels Inszenierung von „Spieltrieb“, nach dem Roman von Juli Zeh, am Hamburger Schauspielhaus. Und leiden, wie seit je im Pubertätsdrama, unter Langeweile

VON SIMONE KAEMPF

Erpressung in der Turnhalle – das sieht zunächst nicht viel anders aus als der Sportunterricht in der letzten Stunde. Hinterher wird geduscht, und der Lehrer knipst in der Turnhalle das Licht aus, wenn der Letzte mit handtuchfeuchtem Haar und schwerer Sporttasche wieder abzieht. Der Lehrer, das ist Smutek (Marco Albrecht), der auf der Turnmatte von Ada (Jana Simon) verführt wird. Alev (Max Mayer) filmt die Sexspiele, und so viel Material haben die beiden Schüler in der Hand, dass sie mit sportiver Bedenkenlosigkeit Geld oder gute Noten erpressen können. Aber das ist mehr ein angenehmer Nebeneffekt in diesem Schülerspiel, das keinen erklärbaren Motiven folgt. „Es gibt keine Gründe“, sagt Alev, „die menschliche Entscheidung ist nichts weiter als ein vortreffliches Spiel.“

Einerseits ist der Lehrer Smutek jetzt Mitspieler, andererseits ist er der Spielverderber, der plötzlich anderen Regeln gehorcht. Mit jedem neuen Erpressungsversuch zerfallen seine alten Gefühle, um sich an einem neuen Objekt zu schärfen: an Ada. Aus Geschlechtsverkehr wird Zuneigung, gar Liebe, die er im Spiel ausleben kann, das nicht mehr enden darf. So schnell wendet sich also das Blatt. Natürlich ist es auch nicht fair vom Lehrer, mit solchem emotionalen Überlauf das rationale Spielmodell der neunmalschlauen Schüler außer Kraft zu setzen.

Wobei ihr berechnetes Rollenspiel dem Ernstfall so peinlich wenig standhalten kann, dass man an wahre Spielerleidenschaft nicht denken denken mag. Was auf der Bühne im Hamburger Schauspielhaus erschöpft, aber glücklich wie nach einem langen Gesellschaftsspieleabend endet, an dem gute Freunde zwischendurch auch mal Gegner sind, hat bei Erscheinen des Romans „Spieltrieb“ vor anderthalb Jahren erst einmal wie ein pechschwarzes Porträt einer Generation der „Urenkel der Nihilisten“ ausgesehen. Denn nicht nur dass Ada und Alev die Gültigkeit von Werten verneinen, nein, sie kennen ihre Existenz ausdrücklich nicht mehr.

Haben Sie der Vorgängergeneration damit etwas voraus? Schwierige Frage. Mit den Herausforderungen des Lebens schlagen sich auch die Älteren nicht gerade vorbildlich. Da ist der Lieblingslehrer Höfi, der vom Ende von allem spricht, der Liebe, der Religion, der Kunst, und sich selbst umbringt. Adas Mutter buchstabiert ihre Exehe als Dauerkrise, die sie mit Eierlikör für sich und einem Hund für Ada materiell zu kompensieren versucht. Und der Sportlehrer Smutek organisiert eine abendliche Leichtathletik-und-Ausdauer-AG als Gegenprogramm zur therapiebedürftigen Ehefrau, die auf dem heimischen Sofa wartet.

Der Ort, an dem sich alle treffen: ein kahler Pausenhof mit einer kniehohen Schulhofmauer, Sinnbild für frei florierende Sitzordnungen jenseits des Klassenzimmers. Hier rückt man zusammen, bildet Gruppen, isoliert den Außenseiter und beobachtet sich misstrauisch, um jederzeit neue Ordnungen aufzustellen. Manchmal hilft auch ein Zwinkern ins Publikum, um sich den letztmöglichen Verbündeten zu suchen. Süchtig nach Zuordnungen sind sie alle, Ada wie der Neue in der Klasse, Alev, der plötzlich am Rande steht. Beherrscht und stets aalglatt lächelnd, ein demagogischer Ränkeschmied, der ungerührt zeigt, dass er sein Spiel so lange spielt, wie sich neue Gegner finden.

Den ersten Teil inszeniert Roger Vontobel ohne drastische Mittel. Sammelt Anspannung in der Psychochoreografie auf dem Pausenhof. Doch der Nervenkitzel verpufft trotz aller Mühe zur Unverstelltheit der Konstellation. Der Regisseur findet in der von Bernhard Studlar dramatisierten Fassung des 600-Seiten-Romans so viele wiedererkennbare Motive jugendlichen Überdrusses, dass man sich irgendwann in Bruckners ewiger „Krankheit der Jugend“ (von 1924) glaubt. Auf der einen Seite Lebensgier und alles verschlingende Langeweile, auf der anderen Seite die Suche nach romantischem Glück. Eine sentimental journey, unterlegt mit pupertärem Weltschmerz. Dazu spielt man Poppiges. Familienbilder in fast motion kontrastieren mit viel nackter Haut im zweiten Teil, die ohne falsche Rücksicht grell ausgeleuchtet ist. Doch wer beim Spieltrieb an die Authentizität der Körper glaubt, bleibt am Ende auf der Seite der Verlierer. Oder hätte verzwicktere Spielsituationen gebraucht.