Ungeplante Bilder

Dafür gab es 2005 den Oscar als bester Dokumentarfilm: Zana Briskis „Im Bordell geboren“ (So., 21.15 Uhr, 3sat)

Ein weiteres Indiz für die triste Lage der deutschen Kinobranche gefällig? „Born into brothels“, der 2005 Oscar-prämierte Dokumentarfilm über eine Gruppe von Kinder im Elendsviertel Kalkuttas, hat bis heute keinen Verleih gefunden. Seine hiesige Premiere feiert der Film, der zu großen Ehren kam, obwohl er mit dem relativ geringen Budget von 450.000 US-Dollar produziert wurde, deshalb nun im Fernsehen: Der NDR hat eine deutsche Synchronfassung mit dem Titel „Im Bordell geboren“ erstellt, 3sat bot den angemessensten Sendeplatz.

Ab vier Uhr morgens putzen und um elf Uhr abends mitunter noch für Bordellkunden Essen besorgen – das sind die Aufgaben der zehnjährigen Kochi, einer der acht Hauptfiguren dieses Films. „Wenn meine Mutter arbeitet, gehen wir aufs Dach und spielen“, sagt ein anderes Kind. Die ganz Jungen haben weniger Glück: Ein etwa dreijähriger Junge ist mit einer Fußfessel an ein Geländer gekettet, damit er die Geschäfte nicht stört. Bei vielen der acht Kinder zwischen zehn und 14 Jahren, die der Zuschauer kennen lernt, ist der Weg in die Prostitution vorgezeichnet.

Abgehärtet durch die Bedingungen des Alltags, haben sie teilweise schon im vorpubertären Alter erwachsene Züge und schätzen ihre Lebensperspektiven illusionslos nüchtern ein – wobei das Fotografieren dazu beiträgt, dass sie das Elend um sich herum noch bewusster wahrnehmen. Geplant war dieser Film nicht. Die Fotografin Zana Briski hatte eigentlich ein Projekt über die Prostituierten von Kalkutta im Auge. So kommt es, dass sie deren Kinder kennen lernt und ihnen nebenbei Fotounterricht gibt. Aber als die mehrfach preisgekrönte Bildberichterstatterin bemerkt, dass unter den Schülern einige Naturtalente sind, hört sie auf zu fotografieren, kauft sich eine Videokamera und beginnt, die Entwicklung, die der Einstieg in die Fotografie bei ihren Eleven auslöst, filmisch zu dokumentieren.

Noch während die Dokumentation entsteht, bekommen die Kinder sporadisch Einblicke in eine andere Welt: Sotheby’s versteigert einige Arbeiten, eine Buchhandlung in einem besseren Viertel Kalkuttas zeigt eine Ausstellung, amnesty international nutzt Fotos für einen Kalender. Im Laufe der Zeit – die Arbeiten an dem Film begannen im Jahr 2000 – hat Briski ihre sozialarbeiterischen Interventionen nicht auf Fotokurse beschränkt, sondern auch alles versucht, ihre Schützlinge in Internaten unterzubringen, die eigentlich keine Hurenkinder aufnehmen.

Wer einen Film dreht, in dem er, zumindest unter anderem, sein eigenes soziales Engagement abbildet, kann natürlich sehr leicht scheitern. Aber die Regieautodidaktin Briski weckt hier nicht einen Moment lang den Eindruck, sie wolle sich selbst inszenieren. Ihr Kampf für die Kinder ist nicht zuletzt spannend, denn man weiß nie, ob sie in diesem städtischen Moloch, in dem allenfalls ein paar archaische Regeln gelten und die Bürokratie kafkaeske Ausmaße hat, zum Ziel kommt. Als größtes Problem erweist es sich, für den zwölfjährigen Avijit einen Pass aufzutreiben, damit er zu einem Fotowettbewerb nach Amsterdam fliegen kann, wo er als Mitglied einer Kinderjury fungieren soll. Eine Reise, die für den Jungen umso wichtiger ist, als sie ihn aus der Apathie herausreißen kann, in die er versunken ist, seitdem seine Mutter ermordet worden ist.

Wer nach dem Film weiter teilhaben will an dem Leben der Protagonisten, gibt im Netz www.kids-with-cameras.org/kidsgallery ein. Hier kann man Fotos erwerben, die die Kinder während der Dreharbeiten gemacht haben. RENÉ MARTENS