EIN VERANTWORTUNGSVOLLER TAG IM PRINZENBAD
: Warten auf die Frau im möglicherweise schwarzen Bikini

LIEBLING DER MASSEN

Im knackevollen Prinzenbad nähert sich eine Unbekannte zielstrebig unserem Liegeplatz: Ob wir bitte mal auf ihre Tasche aufpassen könnten, solange sie im Wasser wäre.

Das kennen wir schon. Immer werden wir gefragt. Es muss an unseren blitzeblauen Äuglein liegen, aus denen in einem fort so was wie Güte, Klugheit und Verantwortungsbewusstsein strahlt wie Radioaktivität aus einem havarierten Atomreaktor. Ich weiß nicht, warum vor allem ich so geworden bin. Eigentlich hätte ich allen Grund, hart und verbittert zu sein, doch jedes der häufigen Male, da mir das Leben unvermittelt ins Gesicht schlägt, schüttle ich mich nur und lache mild.

Das dumme Leben hat es schließlich auch nicht leicht. Es gibt Wichtigeres, als zurückzuschlagen und damit nur die Fronten zu verhärten: eine Biene, die selber zu geschwächt ist, zu einer Blume zu tragen und sanft in den Blütenkelch zu schubsen. Den Straßenkindern zu zeigen, dass man mit einem Schnappmesser auch Äpfel schälen oder Marienfiguren schnitzen kann. Leserbriefe an sämtliche Zeitungen zu schreiben, in denen man die anderen Leserbriefschreiber bittet, es nun doch endlich einmal gut sein zu lassen mit all der Kritik an allem und jedem. Weil die Welt schön ist und noch viel schöner wäre, wenn wir alle, anstatt Krieg zu führen, gegenseitig auf unsere Taschen aufpassen würden.

Apropos: Wann kommt denn endlich diese Frau zurück? Wir wollen nämlich langsam mal nach Hause beziehungsweise an die Arbeit. Wie lange schwimmt die denn? Ist sie ertrunken? Oder in der Tasche befindet sich eine Bombe. Längst sind die Ausbildungslager von al-Qaida voll mit harmlos aussehenden Mittvierzigerinnen aus Mitteleuropa. Der bärtige Bösewicht hat ausgedient. Viel zu auffällig, um auch nur ein im Wald vergessenes Kinderplanschbecken in die Luft zu sprengen. Die Rasterfahndungen verlaufen seit Jahren nur entlang rassistischer Klischees.

Wir beginnen Ausschau zu halten. „Hatte die nicht ’nen roten Bikini“, fragt die Freundin.

„Nein, die hatte ’nen schwarzen.“ Ich kann mir immer alle Bikinis merken, darin bin ich ganz groß. Und sie hatte ja eher mich angesprochen, eben weil sie mich als besonders vertrauenswürdig ansah. Das merke ich an dem verantwortungslosen Vorschlag der Freundin: „Wir könnten die Tasche doch anderen Vertrauenswürdigen übergeben, damit die darauf aufpassen.“

Ich schaue mich um. „Es gibt hier keine anderen Vertrauenswürdigen außer uns.“ Und verbessere mich. „Außer mich.“ Und verbessere mich noch mal. „Außer mir.“ Denn wohin ich auch blicke, sehe ich nur in verschlagene, fiese Fressen, aus denen Stielaugen gierig auf die halb herrenlose Tasche neben uns stieren.

Laut knacken die langen Finger, jederzeit zum Zugriff bereit, falls wir die Konzentration auf die in unsere Obhut gegebene Sache auch nur eine Millisekunde lang erlahmen lassen sollten. Speichel fließt aus fletschenden Mäulern – ein Wolfsrudel, das gierig und doch geduldig auf seine Chance wartet, das Elchkalb von der Mutter zu separieren –, überall gepresster Atem, nur mühsam durch vorgetäuschte Gespräche über Wetter, Arbeit und Privates übertüncht. Badegäste eben.

Schützengraben des Alltags

„Geh du ruhig schon mal. Ich bleibe dann eben alleine hier.“

Mein Pflichtbewusstsein ist fast sprichwörtlich. Wem im Schützengraben des Alltags die Kugeln der Versuchung, der Anfechtung und der Bequemlichkeit um die Ohren pfeifen, lernt schnell, wer die Feinde sind und wer die eigenen Kameraden. Und die gilt es auf keinen Fall im Stich zu lassen. Ob das Land ruft oder eine fremde Frau im schwarzen Bikini: Ich harre aus und verrichte, was mir aufgegeben ist. Was hätte ich wohl im Dritten Reich gemacht?

Wahrscheinlich gewartet. Treu wie ein Hund auf seinen toten Herrn. Ungefähr so, wie ich mir auch die kommende Zeit vorstelle. Die Freundin geht irgendwann. Dann die anderen Badegäste. Enttäuscht ziehen sie die Schwänze ein, sie vermochten mich nicht zu überlisten. Das Bad schließt, nur ich harre neben der Tasche aus. Und es ward Abend und es ward Nacht. Und es ward Sommer und es ward Herbst. Das Prinzenbad beendet die Saison. Ich habe keine Wintersachen dabei. Ich friere. Nirgendwo bellt ein Hund. Wo bleibt die Frau im schwarzen Bikini?