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Archiv-Artikel

Dem Roten Tänzer folgen

PORTRÄT Die Berlinerin Britta Wirthmüller stellt sich beim Festival Ausufern in den Uferstudios vor – und begibt sich auf Zeitreise in die 1920er Jahre

Die Fäuste geballt, den Brustkorb heroisch gewölbt, das Kinn nach oben gereckt – immer wieder straffen sich die Körper der Tänzerinnen in der Probe zu Ausrufezeichen. In diesen Posen steckt enormes Pathos, das mit den Sehgewohnheiten von heute gehörig kollidiert. Das ist natürlich beabsichtigt: Die Choreografin Britta Wirthmüller begibt sich mit „Jean Weidt – Physical Encounters“ auf eine Zeitreise und damit auch auf eine Entdeckungstour in verschüttete Ästhetiken.

Jean Weidt (1904–1988) gilt als wichtiger Vertreter des Ausdruckstanzes in der Weimarer Republik. Als bekennender Kommunist kam für ihn nur eines in Frage: das künstlerische Schaffen in den Dienst der Arbeiterklasse zu stellen. Die Tanzszene der DDR war nachhaltig von seinem Agitprop-Stil beeinflusst. Die Roten Tänzer hieß seine Compagnie.

Britta Wirthmüller holt etwas weiter aus, um zu erklären, wie es zu dem Projekt gekommen ist. Beim Durchblättern von Büchern im Tanzarchiv Leipzig habe sie alte Fotos entdeckt, erzählt die 31-Jährige in einer Probenpause zum Festival Ausufern in den Uferstudios. Beeindruckend und irritierend zugleich sei ihr diese Körperlichkeit vorgekommen. Das Interesse war geweckt, sie fing an, Zeitzeugen zu suchen. Weidt, der von den Nazis verfolgt nach Frankreich floh, hatte in Paris Les Ballets 38 gegründet. Die ehemalige Weggefährtin und Tänzerin Françoise Dupuy, mittlerweile 83, konnte schnell überzeugt werden, einen Workshop in Berlin zu geben. „Da ging eine Tür auf. Es wurde plötzlich sehr körperlich, sah gar nicht mehr so gespannt und verkrampft aus wie auf den Fotos“, schwärmt Wirthmüller.

Die gebürtige Berlinerin, Kurzhaarschnitt, wache Augen, erzählt konzentriert, und man nimmt ihr sofort ab, dass sie ihr Projekt mit Herzblut verfolgt. Ob die Auseinandersetzung mit dem Tanzerbe ein Schwerpunkt ihrer Arbeit sei? Nein, so die prompte Antwort. Historisch gearbeitet habe sie bereits, in einem Projekt zu Robert Rauschenberg etwa. Pures Reproduzieren interessiere sie aber nicht. „Von Anfang an war klar, dass es keine Rekonstruktion sein sollte. Wichtig ist vielmehr, wie man mit der Reibungsfläche arbeitet.“

Der Fokus auf Bewegungsforschung spricht auch aus ihrer Vita. Nach dem Diplom an der Palucca-Hochschule in Dresden merkte sie schnell, dass sie klassische Zuordnungen einengen, ein Master in Performance Studies folgte. Seither geht sie in ihren Arbeiten Grundsätzlichem nach: Was kann Bewegung, wie wird sie wahrgenommen? So spürte Wirthmüller im Rahmen der NRW-Tanzrecherche in „Körper an den Grenzen der Realität“ der Sinnhaftigkeit von Bewegung nach.

Dass ihre neue Produktion bei Ausufern Premiere haben wird, freut sie besonders. Die Tanzfabrik, die 35-jähriges Bestehen feiert und das Festival mitorganisiert hat, sei ein ganz wichtiger Tanzort in Berlin, da sich dort die Szenen mischen.

Im Stück erklingt irgendwann eine Trompetenfanfare, schief und ironisch kommt der Ton daher. Was hätte Jean Weidt wohl dazu gesagt? Diese Frage wird offen bleiben, alles andere lässt sich beim Festival Ausufern in den Uferstudios in Augenschein nehmen. ANNETT JAENSCH