Angekommen!

WIRTSCHAFT Millionen von Wanderarbeitern haben China zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt gemacht. Ihre Ära geht nun zu Ende. In den boomenden Metropolen werden sie nicht mehr gebraucht. Ihre Kinder schon

■ Das Wachstum: Chinas Wirtschaft durchläuft derzeit einen gigantischen Strukturwandel. Fast zwei Jahrzehntelang setzte das bevölkerungsreichste Land der Welt mit günstig hergestellten Konsumgütern zu niedrigen Arbeitslöhnen vor allem auf die Exportwirtschaft. Sie erzielte damit hohe Wachstumsraten.

■ Die Kosten: Diese Form des Wirtschaftens hat einen hohen Preis. Die Umwelt leidet, die Einkommensschere hat sich enorm ausgeweitet, der Konsum ist verhältnismäßig schwach. Zudem stößt dieses Wachstumsmodell zunehmend an seine Grenzen – zumal die bisherigen Absatzmärkte Europa und die USA wegen ihrer Krisen zuletzt zunehmend weggefallen sind.

■ Der Umbruch: Die chinesische Führung will die gigantische Volkswirtschaft daher umgestalten und verstärkt auf den Binnenmarkt setzen. Das heißt: nachhaltigeres Wachstum, mehr Schutz für die Arbeiter und die Umwelt. Zudem soll der Dienstleistungssektor ausgebaut werden und mehr hochwertige Produkte für die eigene Bevölkerung entstehen. Die Löhne sind bereits kräftig gestiegen. Ein solcher Strukturwandel hat aber auch seinen Preis: Die Wirtschaft ist zuletzt nur noch um 7,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, so wenig wie seit 23 Jahren nicht mehr.

AUS ZHONGSHAN, SHENZHEN, GUANGZHOU UND CHANGSHA FELIX LEE

Wenn Zhou Xian auf der Betelnuss kaut und den roten Saft aus der faserigen Schale saugt, dann malt er sich aus, wie sein Leben in ein paar Jahren aussehen wird. Er denkt an sein Heimatdorf in der chinesischen Provinz Hunan, wo Hühner auf seinem Hof herumlaufen, wo er Mandarinenbäume pflanzt und seinem Enkel zuschaut, wie der am Fischteich mit Kaulquappen spielt, sagt er. Es ist ein Leben, in dem Zhou Xian, der Wanderarbeiter, wieder ein Zuhause hat.

Die Betelnuss ist die beliebteste Droge unter Chinas Wanderarbeitern. Sie stimuliert, sie wärmt von innen. Lastwagenfahrer kauen sie, Arbeiter, die auf dem Bau schuften oder in Fabriken stundenlang denselben Handgriff machen. Zhou Xian hilft die Betelnuss, sich eine Zukunft vorzustellen, die weniger beschwerlich ist als die Vergangenheit. Für sich, vor allem aber für seinen Sohn.

Das ist nicht nur ein Betelnuss-Traum. Chinas rasantes Wirtschaftswachstum hat in den vergangenen Jahren auch die Industrie stark verändert. Viele Billiglohnunternehmen, die bislang an den Küstenregionen im Süden und Osten des Landes zu geringen Löhnen Turnschuhe, Jeanshosen und Plastikpuppen herstellen ließen, sind nach Vietnam oder Bangladesh ausgewandert oder verlagern zunehmend ihre Fabriken ins chinesische Binnenland. Dorthin, wo sie immer noch billig produzieren können. Man könnte sagten: Die Arbeit kommt jetzt zu den Arbeitern. Sie müssen nicht mehr zu ihr wandern. An der boomenden chinesischen Küste hingegen entsteht eine moderne Hightechindustrie. Und die braucht keine Wanderarbeiter mehr.

Zhou Xian ist 55, er sieht aus, als sei er über 70. Wie fast jeden Abend sitzt er auf einer Parkbank am Rande eines großen Platzes in einer Siedlung mit Hunderten von fünfstöckigen Plattenbauten. Vor den Fenstern hängt an Stangen die Wäsche. Zhongshan heißt die Stadt, in der er gerade Arbeit gefunden hat. Zhou Xian schaut den Paaren zu, wie sie unter dem Licht der Laternen Cha-Cha-Cha, Walzer und Samba tanzen. Auf der anderen Seite üben sich Frauen im Gangnam Style des Sängers Psy, der aus großen Lautsprechern dröhnt. Er habe kein Taktgefühl, sagt Zhaou Xian und schaue deswegen nur zu. „Hauptsache, Abwechslung.“

Zhou Xian lebt und arbeitet am Perlflussdelta in der südlichen Küstenprovinz Guangdong vor den Toren Hongkongs. Im benachbarten Shenzhen hat er Hochhäuser hochgezogen, in Guangzhou Brücken gebaut, in Dongguan Straßen. Nun errichtet er mit Hunderten anderen Wanderarbeitern ein neues Krankenhaus in der Stadt Zhongshan. „Jedem Dorf eine Klinik, jeder Stadt ein Krankenhaus“ steht auf einem Banner am Eingang der Baustelle. Ab 50.000 Einwohner gibt es ein zweites, ab 100.000 ein großes, erzählt Zhou Xian. So sieht es Chinas Gesundheitsreform vor. Zhongshan hat fünf Millionen Einwohner. Es werden noch jede Menge Krankenhäuser gebraucht.

Glitzernde Metropolen am Perlflussdelta

Seit mehr als 20 Jahren ist Zhou Xian unterwegs, immer auf der Suche nach einem Job. Von Baustelle zu Baustelle, so wie Hunderte Millionen Chinesinnen und Chinesen.

Auf Chinesisch heißen sie Nongminggong, also Bauernarbeiter, auf Deutsch sind sie als Wanderarbeiter bekannt. Noch 2007 wurde ihre Zahl auf etwa 250 Millionen geschätzt. Während der Finanzkrise, die auch Chinas Exportwirtschaft hart traf, verloren 20 Millionen von ihnen zeitweise ihre Arbeitsplätze. Später kehrten viele in ihre Heimat zurück oder fanden feste Jobs. Heute dürften es noch 130 Millionen Wanderarbeiter sein. Die meisten sind Bauern, oft aus armen Provinzen im Landesinnern. Kaum einer hat einen Arbeitsvertrag und damit auch keine soziale Absicherung. Auch Zhou Xian nicht.

Ohne die Wanderarbeiter wäre das Perlflussdelta, Chinas am weitesten entwickelte Region, nicht das, was es jetzt ist: eine prosperierende Megametropole. Shenzhen, Dongguan, Guangzhou, Foshan, Zhongshan und Zhuhai heißen sie – eine Zehnmillionenstadt neben der nächsten. Und jede einzelne verfügt über eine eigene Skyline, über moderne Autobahnen, U-Bahn-Netze. Alle sind mit Hochgeschwindigkeitszügen verbunden, dazwischen stehen Zehntausende Fabriken, Hunderttausende luxuriöse und einfache Apartmenthäuser. So gut wie kein Gebäude ist älter als 25 Jahre. Fast alles haben Wanderarbeiter errichtet.

Chinas Wanderarbeiter sind ein Ergebnis der Öffnungspolitik vor 35 Jahren. Als Deng Xiaoping nach dem Tod von Mao Zedong Ende der 1970er Jahre die Macht übernahm, lag die Wirtschaft der Volksrepublik weitgehend brach. Die mehr als eine Milliarde Menschen waren arm, viele von ihnen hatten die Wirrungen der zehnjährigen Kulturrevolution noch nicht überwunden, die das Riesenreich an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Die Landwirtschaft produzierte nur das Nötigste, Industrie war kaum vorhanden. Ganz China stellte damals gerade mal so viel Stahl her wie heute ein mittelgroßes Werk im Land.

Um den Chinesen wieder zu Wohlstand zu verhelfen, sah Deng nur eine Lösung: Er musste die Welt reinlassen. Aber langsam. Bei einer zu raschen Öffnung, fürchtete er, könne das Land vom Westen überrannt werden. Deng wollte schrittweise vorgehen. Er wählte das damals noch ländliche Perlflussdelta in der Provinz Guangdong zum Experimentierfeld für den Kapitalismus.

Shenzhen und Zhuhai gehörten zu den ersten Auserwählten. Zu der Zeit waren beide nicht viel mehr als eine Ansammlung von Fischerdörfern. Shenzhen grenzte unmittelbar an das prosperierende Hongkong, damals noch eine britische Kronkolonie. Zhuhai lag nah bei Macao, zu der Zeit noch unter portugiesischer Verwaltung.

Millionen von Bauern, zumeist aus den verarmten, übervölkerten Inlandsprovinzen Hunan, Henan, Guangxi und Sichuan, strömten in die Region. Sie bauten Häuser, Straßen und arbeiteten in neu entstandenen Fabriken, an denen ausländische Firmen beteiligt waren. Viele von ihnen lebten in verwahrlosten Baracken, oft auch in den Löchern der entstehenden Neubauten. Die Löhne waren niedrig. Und doch immer noch höher als das, was sie zu Hause auf dem Land verdienen konnten.

„15 Stunden Arbeit am Tag waren üblich“, erinnert sich Zhou Xian. Beschwert habe sich damals niemand. „Es war der einzige Ausweg, der Armut zu entkommen.“

Zhou Xian stammt aus Longyuanzhen, einem kleinen Dorf in der Provinz Hunan. Damals dauerte es einen ganzen Tag, um von dort in die Provinzhauptstadt Changsha zu kommen. Ans Perlflussdelta nach Guangzhou brauchte man mit dem Bus noch einmal über 24 Stunden. Heute ist dieselbe Strecke mit den neuen Hochgeschwindigkeitszügen und modernen Autobahnen in wenigen Stunden zu schaffen.

Turnschuhe, Barbies und andere schöne Dinge

Als Zhou Xian beschloss, sein Heimatdorf zu verlassen, war er 19. Seine Familie hatte erst ein paar Jahre zuvor während Deng Xiaopings Agrarreform ein Stück Land zugeteilt bekommen, zu wenig für ihn und seine vier Geschwister.

Seine Eltern konnten selbst kaum davon leben. Fabriken gab es in der Nähe auch keine. Von ehemaligen Mitschülern hörte er, an der Küste gebe es Arbeit. Ausländische Unternehmen hätten sich angesiedelt, die schöne Dinge herstellten wie Spielzeug, Textilien, Elektrogeräte: Adidas, Nike, Mattel und Foxconn. Er wollte dabei sein. Und so zog er los. Er wurde Wanderarbeiter.

In Shenzhen war Zhou Xian zunächst fünf Jahre auf dem Bau. Dann kehrte er zurück nach Hause nach Hunan. Er heiratete, wurde Vater. Doch der Verdienst auf dem Land reichte nicht. Wieder zog er los und fand Arbeit auf einer neuen Baustelle in Shenzhen. Dieses Mal kam seine Frau mit, die in der Nachbarstadt Dongguang eine Anstellung in einer Textilfabrik fand. Ihr Kind ließen sie im Heimatdorf. Es wuchs bei den Großeltern auf. Seine Frau sah Zhou Xian nur einmal die Woche, an seinem und ihrem einzigen freien Tag. So vergingen die Jahre. „Niemand ahnte, dass dieses Leben zum Dauerzustand werden würde“, sagt Zhou Xian.

Rund 60 Millionen Einwohner zählt das Perlflussdelta heute. Mehr als jeder Zweite ist zugezogen, die meisten als Wanderarbeiter. Viele von ihnen sind weiter gewandert. Einige jedoch sind geblieben und sozial aufgestiegen. Viele einstige Wanderarbeiter haben sich selbstständig gemacht, Geschäfte gegründet, Geld verdient, sie können sich eigene Wohnungen und Autos kaufen. Heute wird die Zahl der Wanderarbeiter im Perlflussdelta auf rund zehn Millionen geschätzt. Tendenz weiter sinkend.

Mit viel Aufwand haben manche auch die städtische Haushaltsregistrierung erhalten, das Hukou, chinesisch für Aufenthaltsrecht. Es ist so begehrt, weil sie Wanderarbeitern alle Stadtrechte zuerkennt – und auch das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein.

Um den Strom der Massen, die vom Land in die Städte drängen, zu begrenzen, gibt es seit den frühen fünfziger Jahren diese besondere Art der Wohnsitzkontrolle. Jeder Bürger ist einem bestimmten Ort zugeordnet. Deshalb hat er auch nur Anspruch auf die jeweiligen Leistungen, die an seinem Wohnort gewährt werden. Wer also in Guangzhou arbeitet, aber dort nicht registriert ist, bekommt auch nicht die Sozialleistungen, die für den gebürtigen Guangzhouer gelten. In der Stadt gehören dazu etwa der freie Zugang zu Schulen und Universitäten, aber auch Krankenversicherung, Altersvorsorge oder Anspruch auf sozialen Wohnungsbau.

Bürger mit Land-Hukou genießen diese Privilegien nicht. Stattdessen werden ihnen Parzellen zugeteilt, die sie dann bebauen können.

Das Hukou-System hat zwar eine unkontrollierte Landflucht verhindert, wie sie in vielen anderen Entwicklungs- und Schwellenländern üblich sind. Slums, die einfach immer weiterwachsen, kennen chinesische Städte nicht. Zugleich aber hat das System zu den starken sozialen Unterschieden beigetragen, die zwischen der Stadt- und Landbevölkerung existieren.

Wanderarbeiter waren in diesem System gar nicht vorgesehen. Ihr offizieller Status ist der von Bäuerinnen und Bauern auf dem Land. Sie leben und arbeiten zwar in der Stadt, Stadtrechte haben sie aber nicht. Und damit eben auch keinen Anspruch auf Gesundheitsvorsorge oder kostenfreie Ausbildung ihrer Kinder. Der ferne Grundbesitz, die Parzellen auf dem Land, helfen da wenig.

Wang Yue hat es geschafft. Die 34-Jährige hat ein Hukou für Shenzhen. Von ihrem Wohnzimmer aus im 19. Stockwerk eines luxuriösen Apartmenthauses im Stadtteil Shekou blickt sie auf das Südchinesische Meer. Sie zeigt auf die Fähre, die Shekou mit der Finanzmetropole Hongkong verbindet. Jeden Morgen bringt sie ihre siebenjährige Tochter dorthin. Die besucht eine internationale Schule in der ehemaligen britischen Kolonie. „Sie soll mal in Oxford oder Cambridge studieren“, wünscht sich die Mutter.

Ihr Mann leitet eine Fabrikhalle für Drucktechnik, sie ist inzwischen zu Hause. Mehr als 100 Mitarbeiter arbeiten für ihn, viele ehemalige Wanderarbeiter. Auch Wang Yue ist vom Land. Geboren in der Provinz Henan, hat sie die ersten Jahre ihrer Kindheit bei ihren Großeltern verbracht. Ihre Eltern waren noch Wanderarbeiter. Sie selbst ist ein Kind des ökonomischen Aufschwungs.

Die Zehnmillionenstadt Shenzhen ist inzwischen eine der wohlhabendsten Städte der Volksrepublik. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei umgerechnet 1.000 Euro im Monat. Selbst ein einfacher Fabrikarbeiter verdient rund 350 Euro. Und wenn sich unter Shenzhens jungen Mittelschicht keine ehemaligen Wanderarbeiter befinden, wer dann soll in dieser Stadt reich geworden sein?

Vor 30 Jahren war Shenzhen weitgehend unbewohnt. „Die Wanderarbeiter der ersten Generation haben den sozialen Aufstieg nur selten geschafft“, sagt Mao Yanhua von der renommierten Universität Sun Yatsen in Guangzhou. Sie haben ein Leben lang in den Fabriken und auf dem Bau geschuftet. Viele von ihnen sind heute noch arm. Der soziale Aufstieg vollziehe sich jedoch in der nachfolgenden Generation, schildert Mao.

Vom Wanderarbeiterkind zum Fabrikleiter

Auch Wang Yues Mutter hatte alles darangesetzt, ihrem Kind eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Sie hatte Anfang der 1980er Jahre in einer Lederfabrik Handschuhe genäht und Gürtel zurechtgeschnitten.

Wang Yue erzählt: Weniger als 100 Yuan im Monat brachte sie nach Hause, nach heutigen Verhältnissen umgerechnet vielleicht 100 Euro. Doch das Leben am Perlflussdelta war für die Wanderarbeiter damals noch verhältnismäßig günstig. Für die Pritsche im Wohnheim zahlte sie vielleicht 5 Yuan – und teilte sie sich auch noch mit ihrer Kollegin, die Nachtschicht hatte, wenn sie tagsüber arbeitete und umgekehrt.

Wang Yues Mutter verdiente genug, um den Großeltern Geld zu schicken und für die Ausbildung der Tochter zu sparen. Mit zwölf kam Wang Yue in die Mittelschule nach Changsha, mit 18 legte sie die Zulassungsprüfung für die Hochschule ab. Wang Yue entschied sich für Betriebswirtschaft. Im Studium lernte sie ihren heutigen Mann kennen, auch er ein Wanderarbeiterkind. Sie kamen nach Shenzhen, er fand einen Job in einem taiwanischen Unternehmen. Nun leitet ihr Mann die Fabrik. Sie besitzen zwei Autos, drei Wohnungen, können sich Auslandsreisen leisten. Wang Yues Mutter lebt jetzt, 68 Jahre alt, als Großmutter im Haus nebenan.

Mit ihrem eigenen Leben hat sich auch die Stadt Shenzhen und die ganze Region in den vergangenen Jahren stark verändert, erzählt Wang Yue. Shenzhen ist keine Arbeiterstadt mehr, auch keine mehr der Prostituierten und Zweitfrauen, wie sie es lange Zeit vor allem für die vielen Unternehmer aus Taiwan, Hongkong, Japan und Südkorea waren. Längst kann sich Shenzhen mit Städten wie Schanghai und Peking messen. Selbst Hongkong macht sie Konkurrenz. Von der Einwohnerzahl und der Zahl der gemeldeten Unternehmen hat Shenzhen die reiche Finanzmetropole bereits übertrumpft.

Man kann den Aufstieg auch an der Barbie-Puppe ablesen. Denn sie wird jetzt nicht mehr gebraucht. Mitte Februar kündigte Barbies Mutterkonzern Mattel an, ein Teil seiner Produktion von China nach Brasilien und Indien zu verlagern. Löhne und Transportkosten seien am Perlflussdelta zu sehr gestiegen, begründet das Unternehmen aus den USA diesen Schritt. Momentan produziert Mattel noch 74 Prozent seiner Waren an den zwei südchinesischen Standorten Dongguan und Nanhai. Auch damit soll es bald vorbei sein. Laut einer Umfrage der Bank Standard Chartered planen im Perlflussdelta 30 Prozent der Unternehmen einen Umzug ins kostengünstigere Landesinnere, weitere 9 Prozent wollen China ganz verlassen.

Der Barbie trauert kaum jemand hinterher. „Billiges Plastikspielzeug leistet ohnehin nur noch einen minimalen Beitrag zur Wirtschaft der Region“, sagt Ökonom Mao Yanhua. Er rechnet vor: Eine Barbie kostet in den USA im Laden 10 Dollar. Davon nehmen chinesische Arbeiter in den beiden Fabriken Dongguan und Nanhai aber nur 35 Cent als Lohn mit nach Hause. Der Rest geht für Transport, Zoll, Marketing und den Gewinn der Herstellerfirma Mattel drauf. Die Unternehmer im Westen behalten unter dem Strich 17-mal mehr, als in China bleibt.

Was die Chinesen auch nicht mehr wollen: die unfaire Umweltbilanz. Immer wieder kommt es zu heftigen Protesten, etwa Ende des vergangenen Jahres in Haimen gegen ein neues Kohlekraftwerk. Drei Viertel der Schadstoffe in der Herstellungskette fallen in Fernost an – doch der örtlichen Wirtschaft kommt nur ein Zehntel des Warenwerts zugute. Westliche Länder verlagern so ihre Kohlendioxidemissionen nach China, während die Gewinne wie etwa bei Mattel in die USA fließen.

Die Löhne in den bislang exportgetriebenen Fabriken am Perlflussdelta steigen, und für viele Unternehmen, für die einfache und billige Lohnarbeit der Hauptstandortfaktor war, wird Südchina immer unattraktiver.

Für die verbliebenen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter wird das Leben im boomenden Süden zu teuer. Sie kehren zurück in ihre Heimatprovinzen. In Hunans Provinzhauptstadt Changsha etwa und auch vielen kleineren Städten in der Wanderarbeiterprovinz herrscht ein Bauboom. Es entstehen Wohnungen für die vielen Rückkehrer.

Gesucht wird: der qualifizierte Facharbeiter

Die Kinder aber der einstigen Wanderarbeiter des Perlflussdelta, sie profitieren von ihrer guten Ausbildung. Seit Jahren bemühen sich Lokal- und Provinzregierung um die Ansiedlung neuer Branchen. Anstelle von Barbie sind erwünscht: Softwarefirmen, Hightech- und Biotechfirmen, Dienstleister und persönliche Serviceanbieter.

Anders als bei Plastikpuppen bleibt der Gewinn im Land, weil es sich um chinesische Firmen handelt. Der Huawei-Campus im Stadtteil Longhua im Norden von Shenzhen ist ein solches Beispiel. Huawei ist Smartphone-Hersteller und inzwischen der weltweit zweitgrößte Netzwerkausrüster.

Gegenüber von dessen Gelände steht noch eine der gigantischen Fabriken von Apple-Zulieferer Foxconn mit mehreren hunderttausend Mitarbeitern, die meisten Wanderarbeiter. 17-Jährige in verstaubten T-Shirts und Jeanshosen stehen am Eingang des gigantischen Geländes und hoffen auf Arbeit. Der Pförtner tritt aus seinem Wachhäuschen, von dem die Wandfarbe bereits blättert. Auch die Schranke ist verrostet. Foxconn stelle derzeit niemanden ein, sagt er. Der Standort in Shenzhen baue Stellen ab. Die jungen Leute sollten es bei Huawei gegenüber versuchen. Doch auch dort werden sie abgelehnt: Es würden nur qualifizierte Kräfte gesucht.

Huaweis Mitarbeiter sind überwiegend qualifizierte Ingenieure und Softwaretüftler. Und sie lassen sich nicht mehr mit Gehältern von 2.500 oder 3.000 Yuan im Monat abspeisen wie gegenüber in der Nachbarfabrik bei Foxconn. Sie rechnen mit Gehältern von 10.000 Yuan aufwärts, das wären etwa 1.200 Euro.

Als Zhou Xian vor fünf Jahren nach Zhongshan kam, um an Baustellen anzuheuern, hatte er gehofft, es werde seine letzte Station werden. Seine Frau starb vor drei Jahren an Lungenkrebs. Sein Sohn, inzwischen 29 Jahre, hat mit einer Ausbildung in Finanzwesen eine Anstellung in der Stadtverwaltung von Hunans Provinzhauptstadt Changsha gefunden, nur zwei Autostunden von Zhou Xians Heimatdorf entfernt. Auch eine neue Wohnung hat sein Sohn für seine Familie gekauft. Sein Vater soll dort mit einziehen. Er wäre dann kein Wanderarbeiter mehr.

Felix Lee, 38, ist taz-Korrespondent in Peking