Schnatterentchens Taxifahrt

Sie machen „brrrrr“ und „huaah“, manche Fahrgäste machen auch „brrrhuaahh“

Und nun sitzen sie hinten bei mir im Taxi und jammern: „Es ist so kalt!“

Das Taxigeschäft ist überraschend gut. „Es brummt“, würde der Volksmund sagen – es brummt wie ein besonders empfindlicher Bär, dem man mit Stahlkappenstiefeln kräftig in den Arsch getreten hat. Das sollte man mit dem Taxigeschäft überhaupt öfter machen, das hat es nicht anders verdient.

Die Fahrgäste, die bei mir einsteigen, geben Laute der Überraschung und des Unwillens von sich: „Brrrrr“, „huaah“, manche auch „brrrhuaahh.“ Andere frösteln theatralisch. Sie „stellen sich an“, wie meine Mutter früher gesagt hätte, „Mensch – stell dich doch nicht so an! Und hör auf zu heulen, sonst weißt du gleich ganz genau, warum du heulst …“

Ja, es ist kalt. Ja, es geht auf Ende März zu. Ja, die Temperatur erreicht momentan nicht das langjährige Monatsmittel. Aber das ist doch alles relativ. Im Januar hatten wir fast dreistellige Minusgrade – da hat keiner was gesagt. „Ist ja normal“, hieß es dann, „ist ja Winter.“ Man zog sich eben was Warmes an, und fertig.

Sommer – Winter; gut – böse; warm – kalt; ugga – ugga: Eben dieses binäre Schablonendenken führt die Fahrgäste nun direkt ins Verderben. Fahrgäste sind dumm. „Hurra – meteorologischer Frühlingsbeginn“, haben sie am ersten März um Punkt null Uhr gekräht und alle dicken Sachen hastig in die großen Pappkartons gestopft, auf denen mit Edding „Wintersachen“ geschrieben steht. Ganz tief unter Jacken, Mützen und Schals vergraben haben sie die Vorsicht, das bessere Wissen und das schlechte Gefühl, und die Schachteln so in den Keller geschleppt. Dabei im Treppenhaus laut mit der großen Frühlingsglocke gebimmelt, und „hurrra, hurra, hurra – der Frühling, der ist da“, gegrölt, sodass im ganzen Haus kein Mensch mehr schlafen konnte – schließlich war es kurz nach Mitternacht.

Im Kellerkabuff stehen schon die Sommerkartons bereit. In dunklen Winternächten sind sie oft heimlich hier herabgestiegen und haben mit zarten Fingern sehnsüchtig über die Pappe gestrichen – nun ist es endlich so weit. Der Fahrgast greift sich seinen mit den Muskelshirts, den Dreiviertelhosen, den Badehosen, der Taucherbrille, dem Schnorchel und den Flipflops. Die Fahrgästin ihren mit den Spaghettiträgertops, den Röckchen, den Bikinis, der Taucherbrille, dem Schnorchel und den Flipflops. Schnaufend und Frühlingslieder singend wuchten sie alles zurück in den vierten Stock. Es ist 1. März, sie sind trunken vor Glück – der Lenz ist eine Droge selbst noch als Placebo. An Schlafen ist jetzt kein Denken mehr. Unter dem Bett zerren sie die mit schwarzem Leder beschlagene Fetischtruhe hervor – die „üble Schweinkramkiste“ hätte Mutter sie genannt. Sie verkleiden sich als Blume und Biene und machen Liebe, stundenlang, ohne Rücksicht auf jegliche Lärm- oder Empfängnisverhütung; im nächsten Winter wird dann ein neuer kleiner Fahrgast geboren. „Im nächsten Winter“ – wie lange hin das noch ist!

Und nun sitzen sie hinten bei mir im Taxi und jammern: „Es ist so kalt!“ Die stellen sich an, diese Schnatterentchen! Sie können froh sein, dass ich sie überhaupt mitgenommen habe mit ihren Taucherbrillen im Gesicht. Ich müsste das eigentlich nicht tun, ich muss gar nichts. Die spinnen doch! Man sollte nachts im Taxi schon vorsichtig sein – es gibt da manchmal so Psychopathen …

An der Humboldt-Uni steht eine junge Frau mit einer großen Tasche. Sie trägt keine Jacke, dafür Flipflops. Barfuß. Und das ist jetzt wirklich wahr, obwohl mir das bestimmt wieder keiner glaubt! In solchen Fällen plumpst mir mein Lieblingsstilmittel, reale Begebenheiten mittels schalkhafter Übertreibungen in eine groteske Spur hineinzuentwickeln, damit junge Germanistikstudentinnen lachen und ich mich super fühle, nämlich voll auf die Füße: Weil die Leute bei jeder auch nur halbwegs außergewöhnlichen Beobachtung tröten, „haha, bei vier Grad unter null barfuß quer durch Münchhausen – mach mir doch den Kishon, du Lesebühnenkasper“, selbst wenn ich schwöre, die Frau mit eigenen Augen gesehen zu haben. Um meine Glaubwürdigkeit zu unterstreichen, lege ich hiermit die Taucherbrillen auf den Altar der Wahrheit. Macht damit, was ihr wollt!

Es ist inzwischen zwei Uhr am Samstagmorgen – das Geschäft brummt wie verrückt. Ich glaube, ich mach jetzt besser Feierabend, sonst dreht sich das Geschäft am Ende noch um und greift mich an. Man soll ohnehin aufhören, wenn es am schönsten ist. Vor allem aber möchte ich nicht länger Fahrgäste fahren, die sich anstellen. Ich kann den Leichtsinn und die Dummheit doch nicht obendrein belohnen! „Sonst lernen die das nie“, hätte meine Mutter gesagt: März ist nicht Frühling. ULI HANNEMANN