Neue Einheitsfront

Es geht um mehr als eine Studentenbewegung, mehr als den Aufschrei einer Generation

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„Generalstreik“ – plötzlich ist das Stichwort da. Dieses Mal kommt es nicht von der radikalen Linken. Auch nicht von den Gewerkschaften. Sondern von der Straße. Es ist eine Synthese. Entstanden aus den unbeantworteten Forderungen, die immer mehr Studenten und Schüler seit Wochen erheben, und aus den vielen sozialen Konflikten der letzten vier Jahre, die so wirkungslos abprallten. Der Ruf richtet sich an die rechte Regierung. Sie soll den „Contrat première embauche“ – den „cpe“ – zurücknehmen, jenen Arbeitsvertrag, der junge Leute für zwei Jahre ihren Patrons ausliefert, sie zu „Wegwerfbeschäftigten“ macht, die täglich und ohne Begründung herausgeschmissen werden können. Am Ende der größten Demonstrationen, die Frankreich seit Jahren erlebt hat, geben die Spitzen der Gewerkschaften die Forderung an die Regierung weiter: „Rückzug des cpe oder Generalstreik.“ Die Frist, die sie stellen, läuft bis heute.

„Wir sind nicht mehr allein“, singen und jubeln tausende von Studenten und Schüler auf dem Boulevard Diderot. Es ist ein Freudenschrei im Rap-Rhythmus der Generation der kaum 20-Jährigen. An diesem Samstag werden sie von hunderttausenden Erwachsenen begleitet. „Nein – wir sind nicht müde, skandieren die Jugendlichen, „Ja – wir machen weiter.“ Lachend halten sie Stinkefinger in den strahlend blauen Himmel. Beschimpfen einen Premierminister, der immer noch an seinem Projekt festhält, das er ohne Konsultation der Gewerkschaften und gegen den Willen seiner Fachminister im Eilverfahren durch das Parlament gepaukt hat. „De Villepin“, rufen sie, „wenn du wüsstest, wohin wir uns dein cpe stecken werden!“ Auf selbst gemalten Transparenten überschlagen sie sich gegenseitig mit Variationen um das Thema „cpe“: „Junge Beschäftigte im Sonderangebot“, ist zu lesen. Und: „Futter für Patrons“. Und: „Wechselt den ersten Enarchen Frankreichs aus!“

Dieser Aktionstag in Paris, in Marseille und an 147 anderen Orten übertrifft selbst optimistische Erwartungen der Organisatoren. An diesem Tag wird klar, dass es um mehr geht als eine Studentenbewegung. Mehr als den Aufschrei einer einzigen Generation. Es sind die größten Demonstrationen, die Frankreich seit vier Jahren erlebt. Mit eineinhalb Millionen Menschen nach Ansicht der Gewerkschaften, mit mehr als 500.000 nach Angaben der Polizei. Allein in Paris ist der Zug mit den dicht geschlossenen Reihen mehr als sechs Kilometer lang. Von der Großmutter bis zum Enkel sind alle Altersgruppen, von der Universitätsprofessorin bis zum Arbeitslosen fast alle sozialen Kategorien vertreten. Vom christlichen Flügel der Sozialdemokratie bis hin zu den Anarchosyndikalisten sind alle linken Organisationen dabei. Sie wehren sich gegen eine Regierung, die das Arbeitsrecht und die 35-Stunden-Woche und die Gesundheitsversicherung und alle möglichen anderen sozialen Errungenschaften aushöhlt. Die öffentliche Unternehmen privatisiert. Und die oppositionelle Meinungsäußerungen konsequent ignoriert: Die massiven Mehrheiten bei Europawahlen und Regionalwahlen? Die Regierung bleibt unbeeindruckt. Die langen Streiks gegen die Regionalisierungen und Personaleinsparungen an Schulen und Universitäten? Es bleibt bei den Streichungsplänen. Die 55 Prozent Neinstimmen gegen die liberale EU-Verfassung? Die Regierung tut nichts, um den Willen ihres Volkes in der EU zu erklären und nach anderen Wegen zu suchen. Dabei hat Jacques Chirac seine 82 Prozent Wählerstimmen, hat seine Regierung ihre absoluten Mehrheiten im Parlament keineswegs nur ihrer eigenen Popularität zu verdanken. Was die Konservativen im Frühsommer so stark machte, was sie, institutionell betrachtet, bis heute ist, war die Angst vor einem Sieg der Rechtsextremen.

„Autisten““, schimpfen die Jugendlichen über den Premierminister Dominique de Villepin, der vom Matignon-Palast aus gegen den Mehrheitswillen seines Volkes stur seine liberale Politik verfolgt. Und sie verschonen auch seine rechten Mit- und Gegenspieler nicht. „Chirac, de Villepin, Sarkozy – ihr seid am Ende“, rufen sie.

„Arbeiterbüchlein“ hat Johanna in schwarzen Buchstaben auf den roten Karton geschrieben, den sie um den Hals trägt. Sie ist 17. Im Geschichtsunterricht hat sie über die Tagelöhner in der Frühzeit der Industrialisierung gearbeitet. „Die wurden morgens angeheuert, und abends entlassen“, sagt sie, „so wie es der cpe vorsieht.“ Ein paar Reihen weiter empören sich Jugendliche darüber, dass ein Patron mit cpe nicht einmal einen Grund für eine Entlassung angeben muss. Die Beschäftigten müssen allein über seine Motive spekulieren. „Schwul? Entlassen!“ steht auf einem Transparent. „Gewerkschaftlich organisiert? Entlassen!“ auf einem anderen. Mittendrin demonstriert Lucille, 19-jährige Anglistikstudentin. Sie streikt seit drei Wochen. „Das cpe ist die Legalisierung der totalen Prekarität“, erklärt sie, „wenn ich keinen sicheren Arbeitsplatz habe, kann ich keine Kinder in die Welt setzen, finde ich keine Wohnung und bekomme ich keinen Kredit.“

Ein alter Mann In der Demonstration, CGT-Gewerkschafter, der schon an den wochenlangen Streiks der Automobilarbeiter teilnahm, die im Mai 1968 zur Anhebung der Mindestlöhne um 30 Prozent und zur Einführung von Gewerkschaftsrechten in den Betrieben geführt haben, sieht in der rechten Regierung in Paris nichts anderes als den verlängerten Arm des Unternehmerverbandes Medef. Dessen Chefin Laurence Parisot hat gesagt : „Alles im Leben ist prekär – von der Liebe bis zur Gesundheit. Warum sollte die Arbeit da eine Ausnahme sein?“ Der alte Mann weiß, warum: „Wenn wir immer mehr junge Leute in die Unsicherheit stoßen, werden bald nicht nur die Vorstädte brennen, wo prekäre Lebenssituationen Alltag sind, sondern auch die Innenstädte.“