Liebe ist ein Kinderspiel

SCHAUSPIEL FRANKFURT Schutzlos, versehrt, unfertig – so bedauernswert war selten eine Lulu, wie Kathleen Morgeneyer Wedekinds Monster in der Regie von Stephan Kimmig spielt

Eine Menschenkennerin war sie nie, eine Männerkennerin schon gar nicht

VON SHIRIN SOJITRAWALLA

Lulu ist alle Frauen; davon zeugen allein die vielen sehr unterschiedlichen Schauspielerinnen, die sie im Film und auf der Bühne verkörperten – von Louise Brooks bis Fritzi Haberlandt. Im Frankfurter Schauspielhaus tut das jetzt Kathleen Morgeneyer, die sehr bald sehr nackt vor uns steht und in ihrer Haltung an ein Zirkuspferd erinnert: Dann wirft sie ihren Kopf zurück, schüttelt ihre Mähne und trabt, hüpft und springt über die Bühne. Um den Hals trägt sie Unmengen von Goldketten, die träge zwischen ihren Brüsten baumeln.

Diese Lulu, wie alle Lulus vor ihr, verdreht den Männern Hirn und Herz, wobei sie diesmal etwas in ihr sehen müssen, was uns verborgen bleibt. Wir sehen ein Kind, das in seinen ausgestellten erotischen Attitüden wie ein kleines Mädchen beim überdrehten Doktorspiel agiert. Das hat etwas Beschämendes, leicht Peinliches, wie es möglicherweise Wedekinds Lulu zu Zeiten ihrer Erschaffung, vor mehr als hundert Jahren, zu eigen war.

So bohrt Kathleen Morgeneyers Lulu ihren Fuß übermütig in den Schritt ihres Gatten Dr. Goll, mit dessen Pimmel sie später spielt wie mit einer toten Maus. Aber selbst wenn sie sich mit gespreizten Beinen auf eine Flasche zu setzen droht, wirkt das wie ein unbeholfen unschuldiges Kinderspiel. Dabei hinterlässt Kathleen Morgeneyer wieder den erschütternden Eindruck, als sei sie eben erst aus dem Ei geschlüpft: schutzlos, versehrt und bemutterungswürdig – wie ein unfertiges Tier. Ihr knabenhafter Körper mit den zierlichen Brüsten unterstreicht das noch. Diese Lulu verführt keine Männer, sondern bespringt sie wie ein tolles Kind. Hinzu kommt der hohe schmerzensreiche Ton der Schauspielerin, die sich greinend und jammernd entblößt, im nächsten Moment aber hart und herrisch wütet.

Keinen Moment würde man sich wundern, holte sie eine Rasierklinge hervor, um sich selbst zu verletzen. Lulu als Borderline-Persönlichkeit, die keine Grenze zwischen ihrem Ich und den anderen kennt. Der Regisseur Stephan Kimmig stellt diese ungewöhnliche Lulu, ob sie nun Eva, Mignon, Katja oder Daisy heißt, auf eine grell helle Bühne (Martin Zehetgruber); ein White Cube, vor dessen weißen Wänden sich die Konturen von Wedekinds Monster deutlich abheben. Zu Anfang bleibt als Spielfläche nur ein schmaler Laufsteg, der sich später vergrößert, wohl auch um Lulus zunehmende Verlorenheit zu bebildern.

Zu Beginn der einzelnen Aufzüge werden der Ort, Lulus jeweiliges Alter und ihr jeweiliger Vorname eingeblendet, dazu erklingt traumverlorenes Glockenspiel. Dieser dokumentarische Zugriff fügt sich gut in Kimmigs requisitenarme und unterkühlt nüchterne Inszenierung, deren Pathos sich im wunderschönen Song „My Body is a Cage“ verspielt.

Als hübsche Lachnummern erweisen sich die vielen Männer des Abends, beinahe ausnahmslos kleine Wichte, die es nötig haben. Ob Dr. Goll (Roland S. Blezinger), der Maler Schwarz (Michael Goldberg), Schöning (Till Weinheimer), sein Sohn Alwa (Andreas Uhse), Lulus Möchtegernvater Schigolch (Michael Benthin), der Zuhälter Casti-Piani (Joachim Nimtz) oder Lulus Laufkundschaft. Zu ihnen gesellt sich noch die tragisch aufragende Lesbierin Gräfin von Geschwitz (Constanze Becker). Sie alle benutzen Lulu für ihr Spiel des Lebens.

Kimmig stützt sich in seiner Inszenierung auf die 1988 von Peter Zadek uraufgeführte Urfassung der „Büchse der Pandora“. Zweieinhalb Stunden nimmt er sich Zeit, um die Stationen eines Mädchenlebens abzuschreiten. Das macht er unterhaltsam und mit Gespür für die Pointen des Textes. Herzergreifend wird es erst zum Schluss, nicht nur weil sich dann ein Leichenberg aus verstümmelten Schaufensterpuppen auf der Bühne türmt. Ein verstörendes, aber auch effekthascherisches Bild, in das man alles und nichts hineindeuten kann. Die Gräfin legt sich einfach dazu, während Lulu auf den smarten Jack (Torben Kessler) trifft. Gemeinsam schreiten sie, sich anrührend auf Englisch unterhaltend, zur Bühnenrampe. Lulu will nur eins: diese Nacht nicht allein verbringen. Eine Menschenkennerin war sie nie, eine Männerkennerin schon gar nicht. Und so liefert sie sich Jack the Ripper regelrecht ans Messer. Am Ende liegt sie blutüberströmt auf der Bühne und ist genau das, was sie goldüberhäuft zu Anfang auch schon war: ein sagenhaftes Opfer.