Die Bewegung kommt zu Wort

PROTEST Keine Spur von Deutungsdrang: Mehmet Ergens Musiktheaterstück „Taksim Square“ in der Neuköllner Oper montiert die Hoffnungen der ägyptischen Revolution in eine lose Handlung mit Liedern aus dem Istanbuler Gezi-Park

Der Wahnsinn ist Wirklichkeit. Kurz vor Schluss erst kippt die überzogen heitere Stimmung plötzlich in atemlose Stille. Die Todesopfer der Polizeigewalt, die die türkischen Proteste vor knapp zwei Monaten gnadenlos stilllegte, werden mit einer Schweigeminute geehrt. „Jahrelang haben sich Mütter im Osten des Landes versammelt und um ihre Söhne getrauert. Wir haben das nie verstanden. Bis jetzt.“ Der Vergleich zwischen Gezi-Park-Widerstand und dem der kurdischen Organisation PKK ist nur einer der vielen Gründe, weshalb Mehmet Ergens Musiktheaterstück „Taksim Square“ wohl niemals an einer türkischen Bühne gespielt werden wird.

Innerhalb von nur vier Wochen wurde „Taksim Square“ am Istanbuler Talimhane Theater einstudiert und am vergangenen Samstag im Heimathafen Neukölln uraufgeführt. Von Verhedderungen und überforderndem Deutungsdrang aber keine Spur. Im Gegenteil: Regisseur Mehmet Ergen nutzt die zeitliche Nähe und lässt die Protestbewegung selbst zu Wort kommen, indem er die Parolen, die Witze und die Hoffnungen vom Taksim in eine lose Handlung mit bewegenden Neukompositionen sowie Liedern aus dem Gezi-Park montiert, etwa dem Youtube-Hit „Çapulcu musun vay vay“ (Bist du ein Plünderer?) des Boğaziçi-Jazz-Chors. Zugleich erteilt Ergen, wenn auch nur augenzwinkernd, der Regierung das Wort, indem er den türkischen Präsidenten Erdogan bis zum Umfallen zitiert, jede unsägliche Banalität seiner öffentlichen Reden vor Augen führt, indem er die seinen Anhängern in den Mund legt.

Die Gezi-Bewegung tritt in der ersten Hälfte von „Taksim Square“ nur als Gesprächsstoff auf einem Polizeirevier auf. Dort sitzt neben der Prostituierten und dem Gewerkschafter (als obligatorische Inneneinrichtung eines jeden türkischen Reviers) eine Gruppe von fünf Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft, die unter Verdacht der Volksverhetzung, also Protestbeteiligung, stehen, obwohl sie alle ganz offensichtlich die Regierung unterstützen – der erste Seitenhieb auf die Willkür der Polizei, die wiederum in Gestalt von zwei einfältigen Machos am Rand der Bühne sitzt und sich sichtlich Mühe gibt, die Ereignisse und ihren Job überhaupt zu begreifen.

„Nächster!“, rufen die Polizisten, und jedes Mal stellt sich ein anderes Gesicht der türkischen Gesellschaft vor. Der Imam betet zum Schutz der Muslime vor den satanischen Widerständlern, und der Nachrichtenredakteur lässt sich von einem Parlamentsabgeordneten beraten, was über den Ticker veröffentlicht werden soll. Unterdessen ordert eine Universitätsprofessorin mehr Sicherheitspersonal für ihren Campus, um ihre zornigen Studenten in den Griff zu kriegen.

Mit dieser smarten Konstruktion will Ergen zeigen, dass eben nicht nur die „einfachen Leute“ vom Land zu den AKP-Anhänger gehören. Selbst Künstler sind dabei. Die Sängerin mit dem „marginalen Styling“ und ihr hipper Freund Ressam Rasim (der Maler Rasim), der gerade einen Kurs in Miniaturenmalerei vorbereitet: „Das Osmanische Reich ist gerade total im Comeback!“ Sie betteln die bauernschlaue Frau des Ministers an, sie zum Dinner einzuladen. Die hingegen spielt immer und immer wieder Mozarts „Türkischen Marsch“ mit ihrem Smartphone ab, um einen Applaus von den Künstlern zu ergattern.

Schließlich kommt dann auch die Bewegung auf die Bühne, als sarkastischer junger Mann mit Helm. „Ich habe mich mit dem Westen verschworen und die Opposition gegen euch aufgehetzt. Ich lief in Schuhen in die Moschee, habe ein Bier aufgemacht und dann alle zum Gruppensex angestiftet“, plappert er und zählt alle Vorwürfe auf, die die Regierung gegen die Prostestszene in Umlauf brachte, um deren Glaubwürdigkeit zu schwächen.

Ein Hohn, dass ausgerechnet der immer autoritärer regierende Premier Erdogan Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten kritisiert. FATMA AYDEMIR