Hochburg der Hommagen

BÜHNE „Tanz im August“ wird 25 und setzt seinen ersten Fokus auf die Einflüsse durch den Postmodern Dance. Unter anderem geht es um das alte Interesse an Alltagsbewegungen

Es gibt Loops mit Tränen und Blues und einen finalen Kontrollverlust

VON ASTRID KAMINSKI

Tanz online 1973: Vier Tänzer legen sich auf den Boden in eine Reihe und halten über sich jeweils einen drei Meter langen Holzstab. Nacheinander verbinden sie nun die Enden der Stäbe so miteinander, dass eine einzige in sich labile Linie entsteht. Immer wenn ein Tänzer den Kontakt mit den anderen über die Enden seines Stabes herstellt, sagt er „I’m on“. Wenn das Onlinesein gut klappt, ein Gefühl für Stabilität hergestellt ist, können Variationen eingebaut werden, den Kopf nach rechts oder links der Linie bewegen zum Beispiel. So leicht kann Tanz sein. Jeder kann das in Großraumbüros, im Park mit geduldigen Freunden oder im Sportunterricht mit konzentrationsbedürftigen Kindern ausprobieren.

Diese Variation aus Trisha Browns „Sticks“ war zum Auftakt von „Tanz im August“ zusammen mit weiteren Kleinodien, die im New York der Siebziger entstanden sind, nun im Hamburger Bahnhof zu sehen. Damit knüpft die diesjährige Kuratorin Bettina Masuch an die Anfänge des Festivals vor 25 Jahren an, als der US-amerikanische Postmodern Dance zum ersten Mal nach Berlin geholt wurde. Auch Steve Paxton, wie Trisha Brown zum Kreis des Judson Church Dance Theatres gehörend und unter anderem Erfinder der Kontaktimprovisation, ist in diesem Jahr mit einer Rekonstruktion seines Stückes „Bound“ (1982) in Berlin. Die beiden Postmodernisten stehen dabei unter anderen für wichtige Elemente des Tanzes – wie das Interesse an Alltagsbewegungen und anderen somatischen Techniken, sowie die konzeptuelle Einbeziehung von Ideen, Objekten und Strukturelementen des Raumes in die Bewegung.

Die Stücke im Hamburger Bahnhof dauern jeweils nur wenige Minuten und folgen einfachen Bewegungsmustern, die rhythmisch und räumlich variiert werden. Ein Hüftwiegen mit flamencoartig erhobenen Armen, dem sich immer mehr Tänzerinnen anschließen, entwickelt sich so zum Beispiel zum magischen Zehnfüßler („Spanish Dance“). Eine andere bekannte Sequenz sind die „Leaning Duetts“: ein siamesisches Laufen auf dem spitzen Winkel eines gleichschenkligen Körperdreiecks. Dieser puristischen Form- und Rhythmussprache könnte man ewig zusehen, eine perfekte Danse d’Ameublement.

Anne Teresa de Keersmaekers und Boris Charmatz haben jüngst in „Partita“, ihrem Eröffnungsstück des Sommerfestivals Foreign Affairs, eine ausführliche Hommage an diese Duette eingebaut. De Keersmaeker ist neben „Tanz im August“ – wo sie oft schon Gast gewesen ist – ein weiteres Tor zur Szene des Postmodern Dance. Gerade der immer virtuoser werdende Minimalaspekt hat den europäischen Tanz vielmehr über Brüssel als über Berlin erobert; de Keersmaekers erstes Kompaniestück, „Rosas danst Rosas“, wurde legendär. Fast 30 Jahre später wurde es dann übrigens auch videocliptauglich und in Beyoncé „Countdown“ als Hommage zitiert. Anne Teresa de Keersmaeker nannte das eher ein Plagiat.

In einen vollkommen anderen Kontext wird die Postmodern-Bewegung nun von dem New Yorker Tänzerchoreografen Trajal Harrell gebracht. Der für seine historischen Tanzfiktionen bekannte Künstler schickt die weißen Minimalisten aus Greenwich, die jeden Glamoureffekt ablehnten, in seinem Serienstück „Made to Measure“ uptown nach Harlem, in die schwarze Homosexuellen- und Transgender-Ballroom-Szene. Dort ist zeitgleich „Voguing“ der neue Stil, eine Tanzrichtung, die sich aus dem Nachahmen von Runway-Defilieren entwickelt hat und die erst in den letzten Jahren auch hier Fuß zu fassen begann. Nun stellt sich Harrell vor, dass die Judson-Church-Tänzer in Harlem nicht Designerposen, sondern tatsächlich einen Gottesdienst voguen, noch dazu einen afroamerikanischen. Also steigt Harrell mit zwei ebenbürtigen Mitperformern in minimalisierte griechisch-römische Faltenwurfgarderobe, mit der auch ein Hadrian zu beeindrucken gewesen wäre, und dekonstruiert in der Kreuzberger St.-Agnes-Kirche einen Gospelgottesdienst. Es gibt Loops mit Tränen und Blues, zwei Minuten voguing und einen finalen exstatischen Kontrollverlust, der im Lustschrei: „Conceptual dance is over“ mündet. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das ist so kathartisch wie unwahr. Auch steht Harrell nicht dafür, dass Voguing nun bei „Tanz im August“ gleich Einzug gefeiert hätte, wie es das Festivalplakat suggerieren könnte. Eher ist die konzeptuelle Beschäftigung mit Queer- und Transgendertheorie der Grund, warum solche Szenen für den zeitgenössischen Tanz generell interessant geworden sind. Ohne die Philosophin Judith Butler, sagt Harrell im Gespräch, wäre der heutige Fokus kaum denkbar. Der Weg von Greenwich nach Harlem ist also, so die erste Gleichung des diesjährigen Festivals, länger als der von Greenwich nach Berlin.