Unsere unbezähmbaren Löwen

Ein Glück, dass Deutschland Kolonien hatte. Ein Glück, dass es Kamerun gibt

Wir müssen etwas unternehmen, um wieder konkurrenzfähig zu werden

Am 8. Oktober 2005, dem Tag, an dem die hoch favorisierte Fußball-Nationalmannschaft Kameruns die Qualifikation für die WM 2006 endgültig verspielt hatte, senkte sich Trauerstimmung über das westafrikanische Land. Die lions indomptables, die unbezähmbaren Löwen, die bei den letzten vier Endrunden dabei waren und 1990 mit dem legendären Roger Milla bis ins Viertelfinale vorstießen, mussten sich der Elfenbeinküste geschlagen geben. Ein schwarzer Tag für Kamerun. Und ein Glückstag für Deutschland.

Szenenwechsel: Nach dem 1:4-Katastrophenkick gegen Italien vergießt ganz Europa Hohn und Spott über Deutschlands Gurkentruppe, die in Florenz plan- und hilflos über den Rasen irrte. Beim DFB jagt eine Krisensitzung die nächste, Jürgen Klinsmann geriet unter schweren Beschuss. Auch Klinsmann weiß – so kann es nicht weitergehen, denn scheinbar unaufhaltsam steuert der deutsche Fußball auf ein Fiasko zu.

Ein schmachvolles Vorrunden-Aus bei der WM 2006 im eigenen Land kann sich der Fußballstandort Deutschland aber nicht leisten. Grund genug für Bundestrainer Klinsmann, die Notbremse zu ziehen. „Unsere Spieler haben einfach nicht mehr die individuelle Klasse von früher. Wir müssen etwas unternehmen, um international wieder konkurrenzfähig zu werden. Der deutsche Fußball braucht dringend Verstärkung.“ Was tun? Der nie um unkonventionelle Methoden verlegene Schwabe ruft einen alten Bekannten an, Winfried Schäfer, den früheren Trainer des Karlsruher SC und des VfB Stuttgart und holt sich beim löwenmähnigen Fußball-Globetrotter Rat.

Der hatte nämlich von 2001 bis 2004 die Nationalmannschaft Kameruns trainiert und sich während seines Afrikaaufenthalts intensiv mit der Geschichte der früheren deutschen Kolonie beschäftigt. Seine Nachforschungen hatten Erstaunliches zutage gefördert: So konnte er dem begeisterten Klinsmann berichten, dass Samuel Eto’o, der Star des FC Barcelona, ein Nachfahre des legendären Afrikaforschers Wilhelm Ettauer ist, der am 14. Juli 1884 im Auftrag Bismarcks die deutsche Fahne an der Mündung des Wouri hisste, um auf diese Weise Kamerun zu deutschem Schutzgebiet zu erklären.

Aber das ist noch längst nicht alles: Der früher für den 1. FC Köln und heute für Galatasaray Istanbul spielende Rigobert Song rühmte sich stets seines Urgroßvaters, des deutschen Militärarztes Gustav Songe, während der beim HSV unter Vertrag stehende Thimotée Atouba seine Abstammung vom gefürchteten Konteradmiral Eduard Knorr, der einst einen Aufstand in Nordkamerun blutig niedergeworfen hatte, eher verschämt preisgab.

Dass sich Kamerun entgegen allen Erwartungen nicht für die WM 2006 qualifizieren konnte, könnte nun zu einem Glücksfall für Deutschland – und für die frustrierten Stars werden, eine echte Win-Win-Situation, die Klinsmann sofort erkannte. Bei einem Krisengipfel im Innenministerium erläuterte er zusammen mit Winfried Schäfer seine ebenso einfache wie geniale Idee: Die hoch motivierten Deutsch-Kameruner sollen für Deutschland angeworben werden. Der ehemalige Nationalcoach der „unbezähmbaren Löwen“: „Diese Jungs sind noch hungrig. Und sie haben den Fußball im Blut. Ich bin mir sicher, dass diese schwarzen Perlen den deutschen Fußball bei der WM würdig vertreten werden. Übrigens – Eric Djemba ist ein Nachfahre des oberschlesischen Ingenieurs Georg Demba, der einst den Bau der Eisenbahn von Nkongsamba zum Hafen von Duala leitete.“

Nach kurzer Beratung wurde der Plan abgesegnet und beschlossen, die westafrikanischen Balltreter nach Deutschland zu holen und sie auf dem kleinen Dienstweg einzubürgern. „Mit Gerald Asamoah war das damals doch auch möglich“, so Innenminister Wolfgang Schäubles kenntnisreicher Kommentar, „warum soll das nicht mit den Kamerunern klappen?“ Ein genialer Schachzug, ohne Zweifel – fraglich ist nur, ob die Fifa die plötzliche Süderweiterung des deutschen Kaders akzeptiert. Aber auch für diesen Fall haben Schäubles Experten schon ein Argument parat. „Wenn die Franzosen oder Niederländer schon seit Jahren von ihrer Kolonialvergangenheit profitieren, kann man uns das doch auch nicht verwehren.“

Herrliche Aussichten also für das Eröffnungsspiel am 9. Juni: wenn Thimotée Atouba im deutschen Trikot den ersten Traumpass in den freien Raum schlägt, Rigobert Song per Hackentrick aufnimmt, mit unnachahmlicher Eleganz die Viererkette Costa Ricas austanzt und Samuel Eto’o mit dem Außenrist den Ball in den gegnerischen Kasten schlenzt, wird niemand mehr behaupten, die Deutschen könnten nicht Fußball spielen.

RÜDIGER KIND