Singen und Kartenspielen in der Dorfkneipe

REFERENDUM In der Schweiz schlägt eine Initiative die Abschaffung der Wehrpflicht vor. Im September wird darüber abgestimmt

VON RUDOLF WALTHER

Am 26. November 1989 stimmten die Schweizer Bürger über eine Volksinitiative ab, die die Abschaffung der Armee verlangte. Das Ergebnis war eine Sensation. Mehr als ein Drittel (35,6 Prozent) stimmte dafür. Die Wahlbeteiligung lag mit 69,1 Prozent sehr hoch, dabei beteiligen sich bei solchen Abstimmungen oft nur um die 50 Prozent. Wie groß damals die Überraschung war, belegte die Schlagzeile einer westschweizerischen Zeitung: „Qui aime encore l’armée suisse?“ („Wer liebt die Schweizer Armee noch?“).

Das war keine Floskel, denn bis dahin glaubte man, dass sehr viele Schweizer Männer ihre Armee liebten. Und das aus Gründen, die in der Tradition der Reserveübung liegen: Das Milizsystem verpflichtet die Wehrpflichtigen im Alter zwischen 20 und 42 Jahren nach dem Grundwehrdienst zu jährlich drei Wochen dauernden Reserveübungen, die früher „Wiederholungskurs“ (WK) hießen und heute „Fortbildungsdienst der Truppe“ (FDT).

Seilschaften knüpfen

Dieser staatlich verordnete Zusatzurlaub verbindet erwachsene Männer mehr als gemeinsame Schulzeiten. Unter den in militärischen Einheiten zusammengefügten Männern bilden sich lebenslange Freundschaften und beruflich-geschäftliche Seilschaften.

Militärische Kameraden verstehen sich in der Schweiz als „Dienstkollegen“ und als solche bilden sie Netzwerke mit „kurzen Dienstwegen“, die man anderswo „Vetternwirtschaft“ oder „Klientelpflege“ nennt. Das erklärt auch die Tatsache, dass die Schweizer Wirtschaft die Kosten von rund 4 Milliarden Franken pro Jahr für die 6 Millionen Tage, die ihre Mitarbeiter statt im Betrieb im militärischen Ferienlager mit dem Namen „WK“ verbringen, ziemlich gelassen hinnimmt. Geschäfte aller Art werden im „WK“ unter „Dienstkollegen“ angebahnt – man kennt sich, schätzt sich und hilft sich.

Ein erheblicher Teil der „Wiederholungskurse“ spielt sich nicht in Manövern und Kasernen ab, sondern in Kneipen. Empirische Untersuchungen dazu gibt es nicht, aber die weltweit einmalige Kneipendichte in der Schweiz beruht auch darauf, dass immerhin 60 Prozent der Schweizer Männer jedes Jahr für drei Wochen Abend für Abend in irgendwelchen Dorfkneipen geparkt werden – zum Trinken, Singen und Kartenspielen. Sehr viele Schweizer Männer lieben nicht direkt die Armee, aber zumindest die gemeinsamen Abende im Staatsurlaub – ohne beruflichen Stress, Frauen, Schwiegermütter und Kinder.

24 Jahre nach der ersten Volksabstimmung über die Schweizer Armee kommt nun die zweite. Wie schon die erste wurde sie von der „Gruppe für eine Schweiz ohne Armee“ (GSoA) lanciert. Am 22. September wird darüber abgestimmt.

Flucht in medizinische Gutachten

Die Initiative verlangt die Abschaffung der Wehrpflicht und den Umbau der Milizarmee in eine Freiwilligenarmee. Das Hauptargument für den Abbau ist: Die allgemeine Wehrpflicht ist längst zur Farce geworden, weil 40 Prozent der Wehrpflichtigen sich wehruntauglich schreiben lassen. Generell gilt: junge Männer aus städtischen, bildungsbürgerlichen Familien schaffen es mit Hilfe von ärztlichen und psychologischen Gutachten spielend, nicht zur Armee einrücken zu müssen.

Für die „staatstragenden“ Parteien von den Liberalen, über die Christdemokraten bis zu Blochers Volkspartei am rechten Rand kommt die Initiative einem Sakrileg gleich. Neben dem Bankgeheimnis ist die Armee die heiligste Kuh im mentalen Haushalt der Eidgenossen.

Die Berufsschweizer, also ziemlich viele unter den acht Millionen, sehen die Armee als Garantin für „den nationalen Zusammenhang und die Gemeinschaft“. Der oberste Armeechef malt für den Fall einer Annahme der Initiative das Gespenst einer Truppe aus „Rambos und Söldnern“ an die Wand. Der Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft behauptet, Großbritannien fülle seine Berufsarmee mit Soldaten direkt aus Gefängnissen auf.

Eine Berufsarmee verbietet die Schweizer Verfassung, und eine Milizarmee aus Freiwilligen existiert bislang nirgends. Das macht die Abstimmung vom 22. September zum politisch brisanten Fall.

Erlaubt die direkte Demokratie rationale Selbstbehauptung, ohne die patriotische Lebenslüge der „allgemeinen Wehrpflicht“ für Männer aufrechtzuerhalten? Zeitgemäß und demokratisch angemessen wäre einzig eine allgemeine Sozialdienstpflicht für Männer und Frauen.